Lesereise Finnland
spürte auch Finnland die Auswirkungen der neuen Krise. An allen Ecken wird nun gespart. Auch am Asphalt. Flickschusterei scheint nun erlaubt. Die Straßen spiegeln die Wirtschaftslage. Aus der Spur geraten ist das Land nicht, aber zu spüren bekommt es die neue Situation durchaus.
Kalt ist es in den letzten Wochen gewesen. Ungewöhnlich kalt für einen November, und Schnee ist noch keiner gefallen. Bliebe es noch ein paar Tage so, die Eisbrecherflotte müsste vorzeitig aus den Hauptstadthäfen auslaufen und die Ostsee-Fahrrinne zwischen den Schäreninseln hindurch von und nach Helsinki freihalten. Diese Nacht können die Besatzungen noch zu Hause bleiben: Es soll wieder wärmer werden – nur noch ein paar Grad unter Null, und Schnee soll fallen. Der erste dieses Winters. Er wird sich über alle Schlaglöcher legen und bis zum nächsten Tauwetter tarnen, was leere Kassen angerichtet haben.
Keine Stadt der Welt wechselt ihre Stimmungen so sehr mit dem Wetter wie diese, und nirgendwo verändert das Wetter die Menschen so stark wie hier. Helsinki unter grauen Wolken ist trostlos, ist streng, unnahbar, hat zumindest in den Vororten den zweifelhaften Charme einer Ostblockmetropole der siebziger Jahre. Helsinki im Schnee unter blauem Himmel ist eine strahlende Winterschönheit.
Der Neuschnee der Nacht knirscht am Morgen unter den Winterstiefeln beim Weg über den Senatsplatz vorm Dom. Eiszapfen klammern sich an die grüne Kupferkuppel, die nun eine Schneemütze trägt. In der Nacht haben Arbeiter vor dem Dom eine riesige Tanne mit Weihnachtsstern auf der Spitze aufgerichtet. Wie aufs Stichwort termingerecht zum ersten Schnee.
Morgens um kurz nach neun geht die Sonne auf und gegen halb vier nachmittags geht sie unter – Helsinkis Tribut an die Polarnacht, die es weniger als tausend Kilometer weiter nördlich in den Polarkreisregionen Lapplands im tiefsten Winter gar nicht erst hell werden lässt. Dass sie aufgeht, zaubert eine halbe Million Lächeln auf eine halbe Million Hauptstadtgesichter. Ein Lichtblick im ständig wiederkehrenden Frust über den viel zu langen und viel zu dunklen Winter.
Die Händler auf dem Kauppatori-Markt unter freiem Himmel am Hafen hatten sich mit der knackigen Kälte der vergangenen Tage arrangiert, wuchten seitdem Lachsseiten im Dunst von Heizstrahlern auf ihre Waagen, reichen den Kunden Obst nur mit Handschuhen herüber. Minus vierzehn Grad zeigte das Thermometer in den letzten Nächten an. Jetzt ist es milder. Der Schnee konnte kommen und Finnlands Hauptstadt ein winterliches Kostüm verpassen.
Ein paar Stände weiter verkauft eine alte Dame selbstgestrickte Mützen und handgenähte Stoff-Adventskalender mit vierundzwanzig zugeknöpften Taschen für kleine Geschenke. Sie freut sich am Interesse der Passanten. Die Frau lebt draußen auf einer der vorgelagerten Inseln, strickt abends vorm Kamin – und im Sommer auf der Terrasse, denn dann muss bereits für das Weihnachtsgeschäft vorgearbeitet werden. Sie verkauft nur, was sie selbst hergestellt hat. Dass mit ihrem immer wieder durch kurzes Lachen unterbrochenen finnischen Redeschwall fast keiner der Wochenendurlauber aus Mitteleuropa etwas anfangen kann, macht nichts. Ihre Herzlichkeit braucht keine Vokabeln.
Ein paar Meter weiter bummeln Besucher durch die restaurierte Markthalle Kauppahalli, probieren an den Ständen der Fischhändler Kaviarhäppchen, bei den Bäckern reisgefüllte Piroggen, bei den Obst- und Gemüseverkäufern arktische Beeren, nebenan Käse aus Karelien.
Die Schaufenster der Kaufhäuser und Geschäfte entlang der Mannerheimintie, neben der Esplanade die Haupteinkaufsstraße der Stadt, sind vorweihnachtlich dekoriert – manche mit avantgardistischem Einschlag. Da steht ein weiß gewandeter Weihnachtsmann mit Schweißerbrille im Schaufenster und kämpft mit Laserschwert und Lichtblitzen gegen Deko-Eisbären. Oder im Schaufenster eines Pelzmützengeschäfts: Santa Claus kniet inmitten Dutzender Mützen jeder erdenklichen Machart und ist doch der Einzige mit einer roten Kopfbedeckung. Im mehrgeschossigen Innenhof des Kaufhauses Stockmann hängt eine riesige Tanne freischwebend von der Decke. Und an einem dicht umlagerten Extrastand im Erdgeschoss wird nichts anderes verkauft als Schokoweihnachtsmänner in hunderterlei Variationen.
Vor den Türen bimmelt sich die Straßenbahn im Schritttempo den Weg durch die verschneite Aleksanderinkatu frei. Und gegenüber im Restaurant Zetor, das der legendären finnischen
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