Lesereise Finnland
Popgruppe Leningrad Cowboys gehört, schallen abwechselnd veräppelte Weihnachtslieder und Rock-Rhythmen aus den Boxen.
Diesen Morgen hatte der finnische Landfrauenverband eine Anzeige in der Tageszeitung Helsingin Sanomat geschaltet: Wer Lust habe, könne zwischen zehn und sechzehn Uhr zum Pfefferkuchenbacken unter fachkundiger Anleitung in der Backstube des Landfrauenverbands mitten in Helsinki vorbeischauen. Und wer nicht selber backen wolle, könne dort frische Pfefferkuchen kaufen. Ein paar Stunden später stehen Käufer Schlange und Hobbybäckerinnen haben ihren Spaß.
Zur selben Zeit singen Kinder einer Vorschulklasse auf den Treppen vorm Dom, dem zwischen 1820 und 1850 errichteten Schlüsselwerk des Architekten Carl Ludwig Engel, mit hohen Stimmchen finnische Weihnachtslieder und freuen sich am Beifall der Zufallszuhörer.
Am Abend setzt wieder Schneefall ein, und Schleier aus rieselnden Flocken streuen das Licht der Weihnachtsbeleuchtung im Zentrum. Niemand würde sich wundern, käme jetzt der echte Weihnachtsmann auf seinem Rentierschlitten durch die Nacht gerauscht und würde der Straßenbahn die Vorfahrt streitig machen.
Lichtschein dringt aus der 1969 erbauten Felsenkirche Temppeliaukio Kirkko, deren Wände aus unbearbeitetem Granit und deren Kuppeldach aus zweiundzwanzig Kilometer gewickeltem Kupferdraht besteht. Etwa dreihundert Menschen haben sich durch den Schneeschauer hierher gekämpft und lauschen nun den Chansons der Sängerin Hanna Ekola. Mit ihrer Stimme füllt sie die ungewöhnliche Kirche, die in den Granitgrund gesprengt statt auf ihm erbaut wurde, schmettert eigene Balladen im Wechsel mit Volks- und Weihnachtsliedern in das Rund des Gotteshauses. Erstaunlich, dass man diese Sprache voller Vokalgewitter so singen kann. Begleitet wird sie am Flügel und von einem Gitarristen. An den Granitwänden der Kirche rinnt Schmelzwasser neben den Kirchenbänken herab und sorgt mit seinen Tropfgeräuschen für zusätzliche Untermalung. Ein Effekt, den die Architekten Timo und 56
Tuomo Suomalainen beabsichtigt haben. Ihr Bauwerk sollte mit der Natur eine Symbiose eingehen statt sie hinter Beton wegzusperren. Als die beiden mit ihrem Entwurf den Architektenwettbewerb zum Bau dieser Kirche gewannen, waren sie noch Studenten. Heute ist Temppeliaukio Kirkko die beliebteste Hochzeitskirche der Stadt, das meistbesuchte Gotteshaus Finnlands – und berühmt für die besondere Akustik.
Der Eintritt zu dem Hanna-Ekola-Konzert ist an diesem Abend frei. Wer mag, kann ein paar Euro in die Spendenbüchse der Gemeinde stecken. Fast alle tun das. Und bitten den lieben Gott insgeheim um einen kürzeren Winter – mit mehr Abenden wie diesen. Und wieder weniger Schlaglöchern.
Mit dem Traktor zur Chipsfabrik
Sechstausendfünfhundert Ostsee-Eilande: Hauptsache verschroben – unterwegs auf den Åland-Inseln
Ein elektronischer Verwandter von Pac-Man flimmert rastlos über den Bildschirm des einzigen Spielautomaten und piept dabei wie ein erkälteter Elektrowecker. Metallwände reflektieren die heiseren Töne, Plastikpolster von fünf Sitzbänken und dunkelbraune Gardinen vor ein paar kreisrunden Fenstern versuchen sie wieder zu schlucken. Ein vielleicht dreijähriger Steppke rüttelt ununterbrochen an einer Kiste mit Rettungswesten und plärrt, während die Mutter des Miniurlaubers zur Beruhigung Löffel um Löffel Griesbrei in den Kleinen hineinstopft. In der gegenüberliegenden Ecke brütet der Fahrer eines Holzlasters seelenruhig über einem Kreuzworträtsel. Szenen aus dem Bauch einer kleinen Inselfähre – oben Platz für den Lkw, einen Linienbus, zwei Traktoren, ein paar Autos und Fahrräder, unter Deck der übersichtliche Aufenthaltsraum mit dem zweckmäßigen Charme einer ältlichen Uni-Mensa. Vor den Bullaugen zieht Ostsee-Idylle vorbei: im Sonnenlicht glänzender Granit, der von den Wellen der Jahrtausende glatt poliert wurde, dahinter weiß und gelb blühende Sommerwiesen, in der Ferne Kiefernwäldchen, im Vordergrund Bootshäuser auf Stelzen, die sich an die Klippen klammern. Friedliche, stille Landschaften. Gegenden ganz ohne Pac-Man-Hektik.
Minuten zuvor rangierte der Lasterfahrer unter den helfenden Zurufen eines pausbäckigen Passagiers seinen mit Bauholz beladenen Sattelschlepper Zentimeter um Zentimeter auf die Fähre, neben ihn gezwängt Autos, Fahrräder und eine Handvoll Fußgänger. Dutzende Fähren verbinden die größeren der abertausend Åland-Inseln am Südende des Bottnischen Meerbusens
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