Lesereise Finnland
miteinander. Sie verkehren nach einem festen Fahrplan und brauchen vom einen Anleger zum nächsten selten länger als eine Stunde. Deshalb kann der Lasterfahrer gelassen bleiben. Er muss die Kombination aus Computerspiel und Kinderpanik nur während der kurzen Überfahrt erdulden – und sollte er genug davon haben, könnte er sich ein Plätzchen im Wind an Deck suchen. Näher dran an der Ostsee-Idylle.
Nur zwei Berufsstände kommen auf den Åland-Inseln ohne Fähren aus. Hebammen und Ärzte schweben bei Bedarf per Wasserflugzeug ein. Alle anderen sind ohne das Fahrplanheft der Skärgårdstrafiken aufgeschmissen. Allzuleicht würde man das Morgenschiff von Seglinge nach Föglö, die Fähre von Lumparland nach Sund verpassen. Das Heft ist die Bibel der Insulaner, der Beweis dafür, dass es noch etwas jenseits des heimatlichen Holzhauses und der eigenen Insel gibt. Es ist die regelmäßig aktualisierte Garantie dafür, zu festen Uhrzeiten aus der kleinen eigenen Welt in die nächstgrößere überwechseln zu können.
Wo die Eilande nah beieinander liegen und nur Meerengen überbrückt werden müssen, übernehmen kleine Kabelfähren mit Platz für nur drei, vier Autos oder einen Lastwagen den Dienst und kreuzen an Stahlseilen geführt, wann immer Bedarf besteht – zum Beispiel, wenn zwei Radfahrer auftauchen und auf die zitronengelbe Rampe am Bug zuhalten. Für sie sind Fährüberfahrten jedes Mal willkommene Verschnaufpausen, denn den Kampf gegen den Wind übernimmt für die paar Minuten eine Maschine. Das entlastet Lungen und Waden. Die meisten Schiffe sind notwendiger Brückenersatz und damit für jedermann gebührenfreier Bestandteil der Infrastruktur.
In eisigen Wintern ruht der Fährverkehr größtenteils. Fahrrad fährt dann sowieso keiner und per Motorschlitten oder auch per Auto kommt man in diesen Monaten auf markierten Pisten übers Eis ohnehin oft schneller von Insel zu Insel. Nur darf man nicht zu stark aufs Gaspedal treten. Das verursacht so etwas wie eine Bugwelle unter der Eisdecke, die sich am nächstfolgenden Wagen gefährlich rächen könnte.
Zum Åland-Archipel gehören rund sechstausendfünfhundert namentlich benannte Inseln und Inselchen, die zwischen Schweden und Finnland aus dem Meer ragen. Die Eiszeit hat sie unsortiert hinterlassen, hat sie willkürlich zwischen die Landmassen gestreut. Naturgewalten sind nicht ordnungsliebend. Hinzu kommen ungezählte namenlose Felsen, die unvermittelt aus der Ostsee ragen, als hätten sie dort vor vielen Jahrtausenden Anker geworfen und seither keine Lust mehr gehabt, weiterzureisen. Als hätten sie gewusst, dass irgendwann Schiffe erfunden würden, die man foppen und zur spaßigen Hindernisfahrt würde zwingen können.
Busfahrer Klaas Södersteen ist jeden Tag zwischen der finnischen Festlandhafenstadt Turku und Torsholma auf der östlichsten größeren Åland-Insel Brändö unterwegs und mag nicht ganz glauben, dass diesmal einige seiner Passagiere von Åva auf Brändö aus per pedes weiterreisen wollen. Bis an die Bushaltestelle hat ihnen der Fahrradverleiher die Drahtesel gebracht. Klaas grinst bei der Verabschiedung: »Wann immer ihr mir während der kommenden Tage begegnet, könnt ihr erschöpft winken. Ich stoppe dann auf offener Strecke – und verlade die Fahrräder unten in den Bus, wo sie den Gegenwind nicht mehr spüren.« Er grinst noch breiter.
Seine Route endet in Torsholma auf Brändö, die Radler dieses Morgens aber wollen über fast ein Dutzend weiterer Eilande hinweg bis zur Inselhauptstadt Mariehamn strampeln. Klaas kann sich nicht entscheiden, ob er mehr Energie fürs Kopfschütteln oder fürs Winken aufbringen soll. »Kuriose Fremde«, wird er denken. »Adjö«, sagt er – »auf Wiedersehen«. Auf Schwedisch.
In den Satteltaschen steckt das Nötigste für die nächsten Tage: Badesachen und Regenumhang, Saunahandtuch und Flickzeug fürs Fahrrad. Andere Verkehrsteilnehmer sind dünn gesät. Zwar ziehen nach jeder Fähranlandung auf den ersten hundert Metern Asphalt Holzlaster und Milchtankwagen an den Pedalrittern vorbei, doch danach sind Autos auf den ebenso gut ausgebauten wie einsamen Inselstraßen die absolute Ausnahme – obwohl angeblich europaweit nur in Monaco mehr Personenwagen pro Einwohner angemeldet sind als auf den Ålands. Die scheinen auf den Inseln gut verteilt zu sein und selten ausgeführt zu werden. Anders ist das nur in Mariehamn, jener Ortschaft, die immer dann gemeint ist, wenn die Åländer – ganz egal in
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