Lesereise Friaul und Triest
man es nennt, lehrt den aufrechten Gang.
San Giovanni ist immer noch von hohen Mauern umschlossen, doch die Tore nach außen stehen weit offen. Die Pavillons der früheren psychiatrischen Klinik haben neue Bewohner bekommen. Studenten sind eingezogen, die Institute für Geologie und Petrografie, dazu Beratungsstellen für Suchtkranke und eine Station für Arbeitsmedizin. Im Herzen der Anstalt die Casa Rosa Luxemburg. An den Mauern die Parolen von einst: »La libertà è terapeutica.« Und ein Stück weiter oben, in einem der anderen Häuser: »La verità è revoluzionaria.« Die Lettern verblassen, die Stadt ist dabei, die ganze Anlage zu restaurieren. Könnte gut sein, dass auch die Zeichen des damaligen Aufbruchs unter frischem Putz und Anstrich verschwinden.
Und Marco Cavallo, wo ist der geblieben? Man entdeckt ihn auf der Veranda des Pavillons des Dipartimento di Salute Mentale, ein großes blaues Fabelwesen. Es hat im Getümmel seinen Kopf verloren. Doch seine Kraft scheint ungebrochen: Einer wie Marco, der braucht keinen Kopf. Das Gedankengut des Franco Basaglia lebt weiter, und mit ihm die Erinnerungen an die Öffnung der Psychiatrie, an den Auszug der Patienten, an den Ruf der Freiheit.
Wenn ein Löwe das Herz mir zerfleischt,
wenn eine Schlange mich beißt,
wenn ich suche nach dem Meer vor Shanghai oder vor Hongkong
oder wenn ich mich in dich verliebe:
Was unternimmst du?
So die Frage in einer der Moritaten über das Leiden der Psychiatrie.
Ich habe keine Waffe, um den Löwen zu töten,
und keinen Stock gegen die Schlange.
Nach Hongkong können wir nicht fliegen.
Wenn es überhaupt eine Antwort gibt, dann heißt sie: keine Kontrolle.
Viva Marco Cavallo.
Hier ist Geröll und Tod
Poesie des Steins: der Karst
Alle brauchen Wasser: die Bürger von Triest, die Seeleute auf ihren Schiffen, die Arbeiter in den Werften und Fabriken. Doch Wasser ist rar. Triest hat es nicht leicht. Vom Hinterland, dem Karst, ist nichts zu erwarten, das weiß man schon lange. Das Gestein verschluckt das Regenwasser und lässt es nicht mehr frei. Kein Fluss weit und breit, nicht einmal ein Bächlein. Schon in antiken Zeiten hatte man damit begonnen, Aquädukte zu bauen und Trinkwasser von weit her in die Stadt zu leiten. Wenn es nicht reichte, wurden riesige Eisbrocken aus den Bergen herantransportiert, um die Triestiner zu versorgen.
Doch spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts, als der Hafen wächst und Triest als Handelsstadt zu florieren beginnt, werden die Ressourcen knapp. 1840 beginnt man sich nach einem Ingenieur umzusehen, den man auf die Suche nach Wasser ansetzen möchte. Die Wahl fällt auf Antonio Federico Lindner, einen jungen Mann mit hochfliegenden Ambitionen. Die Landkarten, die er verwendet, haben weiße Flecken, der Karst und sein Inneres sind kaum erschlossen. Immer wieder streift Lindner über die Hochebene. Er vergräbt sich in geologische Studien, in Pläne und alte Aufzeichnungen. Nichts. Seine Überlegungen werden kühner: Und wenn nun des Rätsels Lösung im Timavo steckt, einem Fluss, der unweit von Duino aus dem Gestein tritt und ein paar Kilometer weiter südlich in die Adria mündet? Und was, wenn nun dieser Timavo an einer ganz anderen Stelle entspränge als an jenem Ort, wo man bislang seine Quelle vermutete? Lindner beginnt zu rechnen und zu zeichnen. Er zieht eine Linie zwischen San Giovanni del Timavo und dem slowenischen Škocjan. Dort verschwindet ein anderes Gewässer in einem Abgrund, die Reka, wie ihn die Slowenen einfallslos genannt hatten, Fluss. Und wenn nun dieser Timavo und die Reka ein und dasselbe Gewässer wären und ihr gemeinsames Flussbett auch die Gegend von Triest streifte? Könnte ja sein, und vielleicht –? Neue Perspektiven tun sich auf. In Lindner werkt die Verwegenheit des Forschers.
Die Idee lässt ihn nicht mehr los. Eine monatelange Suche beginnt – und damit die systematische Erkundung des Karsts. Lindner und seine Helfer dringen ins Innere des Gebirges vor. Sie entdecken Grotten und Tunnel, legen verschüttete Durchgänge frei, folgen Wasserläufen und seilen sich in immer neue Tiefen ab. Das Licht der Fackeln züngelt die zerklüfteten Wände entlang. Angst ist kein guter Ratgeber. Wer zu viel Fantasie hat, den holt hier der Teufel. Nach elf Monaten der Durchbruch: Über eine Strickleiter steigt Lindner in ein Flussbett ab, dreihundertneunzehn Meter in die Tiefe. Kurz darauf hallt ein Schrei durch den Karst: Der Timavo scheint endlich gefunden!
Triest
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