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Lesereise Friaul und Triest

Lesereise Friaul und Triest

Titel: Lesereise Friaul und Triest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schaber
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So soll es sein. Nun ist Marco bereit für seine Reise in die Welt. Auf sechshundert handbemalten Plakaten wird die Stadt auf den Zug der matti , wie man die Geisteskranken nennt, vorbereitet. Am 25. Februar 1973 soll es so weit sein. Patienten, Ärzte und Künstler geben sich kämpferisch: Sollen sie doch alle herschauen und uns begaffen, uns, das Lumpenpack aus San Giovanni. Aufbruchsstimmung macht sich breit. »Der Umzug der Verrückten, der armen Teufel, bewegte sich durch die Stadt«, erinnert sich einer der Ärzte. »Er bewegte sich durch die Stadt, wurde größer, suchte seine eigene Geschichte, seine eigene Identität, seine eigenen Wurzeln, die negiert sind, die nicht sind und nicht sein dürfen.«
    An jenem Sonntag im Februar, da der Himmel über Triest blau und weit ist, scheint plötzlich vieles möglich. Am Abend, als das Fest zu Ende geht, sind alle euphorisch. Dieser Tag macht Mut. Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten von der Aktion, das gesamte Kunstprojekt wird von Giuliano Scabia in einem Buch dokumentiert. »Das große Theater des Marco Cavallo« nennt er es, »Phantasiearbeit in der Psychiatrischen Klinik Triest«. Die Künstler ziehen ab, doch Marco Cavallo bleibt in San Giovanni zurück. In seinem Bauch steckt die Hoffnung.
    Franco Basaglia kann in jenen Tagen auf sein Team zählen. Er publiziert viel, häufig zusammen mit seiner Frau Franca Ongaro Basaglia. Der Austausch mit Freunden und Kollegen aus Frankreich, England oder den USA – darunter Michel Foucault, Ronald D. Laing und Erving Goffman – macht ihn international bekannt. Aus der ganzen Welt reisen Ärzte, Interessierte und freiwillige Helfer nach Triest, um Basaglias Arbeit vor Ort kennenzulernen. Bücher wie »Was ist Psychiatrie« oder »Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen« werden zu Bibeln einer neuen Psychiatrie. Das Echo stärkt Basaglia den Rücken. Er bekommt zusätzliche Unterstützung vom christdemokratischen Präsidenten der Provinzverwaltung, Michele Zanetti, der Basaglias Programm politisch mitträgt. Man arbeitet auf mehreren Ebenen: Einerseits gilt es, die Patienten von San Giovanni auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten, andererseits kämpft man um die Zentren für mentale Gesundheit, wie sie heißen. Die ambulante Betreuung der Kranken außerhalb der Klinikmauern ist einer der Grundpfeiler, auf die Basaglia baut.
    Und doch: Was sich im Rückblick als Erfolgsgeschichte liest, bedeutet in jenen Jahren eine Übung in Geduld, Durchhaltevermögen und Zuversicht. Viele Triestiner sind überfordert. Sie wollen keine psychisch Kranken in der Nachbarwohnung, sie wollen keine Verrückten in den Straßen ihrer Stadt herumirren sehen. Wer weiß, was denen einfällt, wenn die alle frei- und losgelassen sind. Kann man sich in Triest überhaupt noch sicher fühlen? Kritiker kommen auch aus den eigenen Reihen. Es sei zu früh für hochfliegende Pläne wie die eines Franco Basaglia, viele der Ideen seien naiv und angesichts eines maroden Gesundheitssystems nicht finanzierbar. Ob man sich hier nicht versteige mit solch abgehobenen Vorhaben, das Ende der geschlossenen Anstalten zu verkünden?
    Basaglia bleibt unbeirrbar – und er behält recht. Widerstände brechen langsam zusammen, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung wächst, man nimmt die Kranken wieder in die Gemeinschaft auf. Triest scheint stolz auf seine Fähigkeiten, einer politischen Utopie auf die Sprünge zu helfen. Im Jahr 1977, als Franco Basaglia die Schließung von San Giovanni in Aussicht stellt, zählt man dort nur noch hunderteinunddreißig stationäre Patienten, von denen einundachtzig freiwillig da sind, als Gäste, wie sie nunmehr heißen. Es gibt Beratungsstellen, über ganz Triest verstreut, dazu psychosoziale Ambulatorien, die sich auf ein weites Spektrum therapeutischer Behandlungen stützen.
    Am 13. Mai 1978 wird in Rom die legge 180 gebilligt. Das Gesetz sieht die graduelle Auflösung der psychiatrischen Anstalten vor und verhilft den Kranken zu neuen Rechten. Genugtuung und Ansporn für Franco Basaglia: Er hat sich lange für dieses Gesetz eingesetzt. Zwei Jahre später stirbt er, unerwartet. Sein Lebenswerk geht weiter. Die legge 180 wird in den folgenden Jahren kritisiert, angefeindet, sabotiert. Man schreit nach einer Reform der Reform. Doch die Gesellschaft ist stark genug, sich nicht mehr hinter die darin festgeschriebenen Leitlinien für die Psychiatrie zurückzubewegen. Das »Gesetz Basaglia«, wie

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