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Lesereise Friaul und Triest

Lesereise Friaul und Triest

Titel: Lesereise Friaul und Triest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schaber
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suchen, sondern in den Lebensumständen der Patienten und in der Gesellschaft, so Basaglias Credo. Daran gelte es zu arbeiten. Der Arzt, dereinst Anwalt und Kontrollorgan des Staates, müsse fortan den Patienten und dessen Willen vertreten. Nur so könne man dessen Lethargie aufbrechen und ihm neue Perspektiven zuspielen. »Für die Rehabilitation des in unseren Anstalten dahinvegetierenden institutionalisierten Kranken ist es also vor allem nötig, dass wir uns bemühen – bevor wir einen neuen, freundlichen und menschenwürdigen Rahmen für ihn schaffen, den er gewiss auch braucht –, in ihm ein Gefühl der Auflehnung gegen die Macht zu wecken, die ihn bis dahin determiniert hat. Sobald in ihm ein derartiges Gefühl erwacht, wird die Leere, in der er jahrelang gelebt hat, sich wieder mit persönlichen Kräften der Reaktion und des Konflikts und mit einer Aggressivität füllen, über die allein seine Rehabilitation realisierbar wird.«
    Als Franco Basaglia im August 1971 die Leitung des Psychiatrischen Krankenhauses von Triest übernimmt, sind dort weit über tausend Patienten dauerhaft untergebracht, die meisten werden via Zwangseinweisung festgehalten. Basaglia reagiert umgehend: In San Giovanni werden Schocktherapien abgeschafft und die medikamentöse Ruhigstellung eingeschränkt oder aufgehoben. Gleichzeitig ermuntert er die Kranken, ihre Zimmer zu verlassen und sich frühere Lebensräume zurückzuerobern.
    Regelmäßige Stationsversammlungen, an denen auch die Patienten teilnehmen, lassen neue Formen der Kommunikation entstehen. Eigeninitiative wird gefördert, der Arzt als alleinige Autorität in Frage gestellt. Auf diese Weise transformieren sich die einstigen Machtverhältnisse. Die Patienten beginnen sich zu organisieren und für ihre eigene Stimme zu kämpfen. Eine Demokratisierung der Psychiatrie setzt ein. Kooperativen entstehen, mit regulären Arbeitsverträgen und einer gerechten Entlohnung. Ihnen folgen betreute Wohngemeinschaften – einige in den Pavillons, die meisten in anderen Stadtvierteln. Parallel dazu lädt man die Bevölkerung ein, San Giovanni zu erkunden, bei Konzerten, Lesungen, Theaterabenden. Die Grenze zwischen Stadt und Psychiatrie wird durchlässig.
    Im Januar 1973 zieht eine Gruppe von Künstlern nach San Giovanni, um zwei Monate lang mit den Patienten zu arbeiten und zu leben. Ein Atelier, offen für jede Form kreativen Ausdrucks, könnte die Patienten aus der Apathie reißen, so die Überlegung. Doch wie schafft man es, möglichst viele von ihnen anzusprechen und zum Mitmachen zu motivieren? Vielleicht mit Hilfe einer Identifikationsfigur, so einer der Vorschläge. Einigen der Kranken fällt Marco Cavallo ein, ein alter Gaul. Er hatte am Anstaltsgelände gelebt und den Karren gezogen, auf dem die Wäsche transportiert worden war. Als er geschlachtet werden sollte, hatte sich ganz San Giovanni dagegen aufgelehnt und sein Gnadenbrot erwirkt. Und wenn man nun Marco Cavallo als Figur aus Pappmaschee wieder aufleben ließe, als Zeichen des Widerstands? Die Zustimmung ist groß.
    Zusammen mit Marco Cavallo wachsen Neugier, Mut und Zusammengehörigkeitsgefühl. Durch Wandzeitungen und Flugblätter vom Fortschreiten der Arbeit informiert, finden sich immer mehr Patienten in Pavillon P ein, wo eine Werkstatt eingerichtet ist. Sie wird zum kreativen Labor. Hier wird gesungen, gedichtet und viel geredet. Puppen bekommen Biografien, in denen sich die Lebensgeschichten vieler Patienten spiegeln. Leidenschaften und Sehnsüchte artikulieren sich in Spiel und Tanz. Wirklichkeit und Fiktion durchdringen einander und eröffnen neue Erfahrungswelten. Die einstige Passivität vieler Kranker bricht langsam auf, Freundschaften entstehen, die Gespräche nehmen zu. Gleichzeitig verschaffen sich Aggressionen Raum. Zeichnungen werden zerstört, Fotos gestohlen. Doch es gelingt immer wieder, aufkeimende Unruhe und Feindseligkeit aufzulösen und sie im Miteinander zu überwinden.
    Marco Cavallo wächst, sein Leib aus grauem Pappmaschee ist längst überlebensgroß. Womit man ihn füllen solle, fragen sich Künstler und Patienten, sein Bauch sei riesig. Jeder der Beteiligten versenkt einen kleinen Brief in Marcos Wanst. Darin ihre Wünsche: Reh mit Polenta, Hasensalami, ein Lied, ein Fahrrad, ein Komet. In Marcos Bauch findet vieles Platz.
    Zuletzt gilt’s zu überlegen, welche Farbe Marco bekommen soll. Blau – wie das unendlich weite Meer vor der Küste Triests, wie das legendäre Pferd des Franz Marc?

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