Lesereise Friaul und Triest
Marco Cavallo quer durch die Stadt nach San Vito zu bringen. Eine lärmende Karawane, begleitet von Trommeln, Gesängen und Transparenten: »La libertà è terapeutica.« Freiheit ist die Therapie. Vor der Kathedrale, dem historischen Herzen Triests, kommt der Zug zum Stoppen. Hier findet ein Volksfest statt, mit Musik, Tanz und Singspielen, mit Sketches und flammenden Reden. Danach zieht man weiter, um die Feier in einer Turnhalle fortzusetzen. An jenem Sonntag im Februar 1973 manifestiert sich auf vitale Weise, dass sich neue Wege auftun: Ein blaues Pferd wird zum Symbol für die Freiheit der Psychiatrie. Viva Marco Cavallo.
Seit den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gelten der Arzt Franco Basaglia als Lichtgestalt und Triest als Vorreiter einer beispielgebenden Reform der Psychiatrie. Sie erfasste von hier aus ganz Italien und griff auf viele Länder Europas und Amerikas über. Basaglia war es zu verdanken, dass sich viele geschlossene Anstalten von Orten der Abschiebung in Laboratorien einer neuen, humaneren Gesellschaft verwandelten. Ein Experiment mit ambitionierten Zielen: die Patienten aus ihrem Leben hinter Gitterstäben in die Freiheit einer größtmöglichen Selbstbestimmung zurückzuführen.
Die Klinik von San Giovanni stammt ursprünglich aus jenen Tagen, da die Psychiatrie eine erste zaghafte Reform durchlief. Die riesigen Schlafsäle, in denen man Patienten bisher zusammengepfercht und gewaltsam unter Kontrolle gehalten hatte, sollten kleineren Häusern weichen. Ein Stückchen Welt wollte man den Verrückten zugestehen, so der Auftrag an den Architekten Ludovico Braidotti, eine Stadt in der Stadt. Braidotti orientierte sich an Otto Wagner und dessen Entwürfen für die psychiatrische Anstalt Steinhof in Wien. Eine Reihe von Pavillons wurde gebaut, dazu kamen eine Kapelle und ein Theatersaal, eine Wäscherei und eine Gärtnerei, untergebracht auf einem Areal von dreiundzwanzig Hektar.
San Giovanni wird 1908 eröffnet – zu einem Zeitpunkt, da Triest gerade Sigmund Freud entdeckt. Mit seinem Schüler Edoardo Weiss, der hier 1918 zu praktizieren beginnt, erlebt die Psychoanalyse eine besondere Blüte. Sie weckt, wie Claudio Magris befindet, »ein fast schon fieberhaftes kulturelles Interesse und führt zu einem neurotischen, endogam geschlossenen Kreislauf zwischen Patienten, Freunden und deren Therapeuten, die untereinander ihre Rollen tauschen und Therapie, Freundschaft und gesellschaftlichen Verkehr miteinander verwechseln«. Wer auf sich hält und es sich leisten kann, ist in Analyse. Traumdeutung, Totem und Tabu überrollen die Stadt, die ohnehin mit ihrer brüchigen Identität hadert. Das sinnstiftende gesellschaftliche Gefüge ist spätestens mit dem Ersten Weltkrieg zerbrochen. Zurück bleiben verstörte Individuen, die zumindest ihrem Ich auf die Spur zu kommen trachten.
Sigmund Freud, Edoardo Weiss, Franco Basaglia: Klemmen die Türen zum weiten Land der Seele in Triest weniger als anderswo? Basaglia, 1924 in Venedig geboren, hat in Padua studiert, geforscht und gelehrt, ehe es ihn 1961 in die Praxis zieht: Er will endlich ausprobieren, was er theoretisch erarbeitet hat. Die psychiatrische Klinik von Görz – heute Gorizia –, fünfzig Kilometer nördlich von Triest, scheint ihm dafür der richtige Ort. Das Spital erschüttert ihn. Ein Kerker, in dem die Patienten stumm vor sich hin vegetieren, in Zwangsjacken eingeschnürt, medikamentös sediert. Unruhige werden über Wochen und Monate in Käfige gesperrt oder gefesselt, Elektroschocks dienen der Bestrafung unangepasster Kranker.
Basaglias Befund ist klar und scharf: Die Psychiatrie, so erklärt er, habe sich von der Justiz instrumentalisieren lassen und füge sich deren Direktiven. Beide arbeiteten daran, all jene Menschen, die nicht ins System passten, zu kriminalisieren und wegzusperren. Medizinische Untersuchungen entpuppten sich als Mittel der Repression, Diagnosen als Urteile, häufig lebenslänglich: Die Patienten würden in Unmündigkeit und Ohnmacht geschickt und darin gefangen gehalten. Leere Körper, die sich manisch aufzubäumen suchen und zusammenbrechen.
Ein System, gegen das sich Basaglia kraftvoll zu sperren beginnt. Zusammen mit einer Gruppe junger Ärzte, Psychologen und Soziologen entwirft er neue Behandlungsmodelle, um festgefahrene Hierarchien aufzubrechen und den Kranken Selbstbestimmung und Identität zurückzugeben. Die Ursachen psychischer Krankheiten seien nicht allein im Physiologischen zu
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