Lesereise - Israel
Motorrad hat der eingeschworene Nichtraucher längst gegen einen soliden Familienwagen eingetauscht: »Das war mir einfach zu gefährlich.«
Israelisches Roulette
Wer Israel aus Angst vor Krieg oder Terror meidet, der sollte mal versuchen, hier einen Zebrastreifen zu überqueren
Viele meinen, Israel sei aufgrund der Kriege mit den Palästinensern oder den umliegenden arabischen Staaten ein gefährlicher Ort. Manche Touristen fürchten sich anfangs vor Attentaten oder dem Ausbruch eines Nahostkriegs. Andere beklemmt der Anblick der Soldaten, die bei ihrem Fronturlaub ihre Gewehre mit nach Hause bringen und bewaffnet durch die Straßen laufen. Völliger Unsinn. Seit der ersten zionistischen Einwanderungswelle 1882 sind im Kampf zwischen Zionisten und Arabern weniger Menschen durch Krieg, Terror und in Geheimdienstoperationen ums Leben gekommen, als in den rund sechzig Jahren seit der Staatsgründung auf Israels Straßen verunglückten. Wer wirklich den Tod fürchtet, der ist in Israels Panzern besser aufgehoben als hinterm Lenkrad. Und nirgends wird der wahre Existenzkampf der Israelis härter ausgetragen als auf den weißen Linien auf dem Asphalt, die unwissende Ausländer lediglich als Zebrastreifen ausmachen würden. Israelis wissen jedoch genau, worum es sich bei den schwarz-weiß gekennzeichneten Flecken auf der Straße handelt: Sie sind das letzte Naturschutzgebiet männlichen Machotums, der Ort, an dem Autofahrer und Fußgänger sich der ultimativen Kraft- und Mutprobe stellen.
Auf der Straße verwandelt sich der Israeli zum eingesperrten Raubtier. Durchgezogene weiße Linien werden zu Zoogittern, die es zu durchbrechen gilt. Die rechte Fahrspur wird zum Reservat für lahme, zahme Pflanzenfresser, die man tunlichst meidet, während man auf der linken Spur hupend, nötigend und blinkend seine Todesverachtung unter Beweis stellt. Überholte Autofahrer sind Jagdtrophäen, die man bei Tempo hundertzwanzig mit einem herablassenden Blick zur Seite begutachtet. »War es nur eine alte Frau am Steuer, oder habe ich ein Alphamännchen oder -weibchen überholt?«, scheint man sich zu fragen. Der Befund einer Untersuchungskommission, menschliches Versagen sei die Hauptursache für Unfälle in Israel, erscheint mir lächerlich. Tierisches Versagen würde den Nagel eher auf den Kopf treffen.
In Israel ist jede Straßenüberquerung ein Wagnis, nennen wir es einfach »israelisches Roulette«. Langsam nähere ich mich dem Straßenrand und nehme mit dem sich nähernden Autofahrer Blickkontakt auf. Er hat jetzt drei Möglichkeiten: Er kann mich wahrnehmen und verlangsamen, um mich hinüberzulassen. Höchst unwahrscheinlich. Er kann mich ignorieren und so seine Absicht bekunden, für jemanden wie mich nicht bremsen zu wollen. Doch am häufigsten wird er einen ungläubig anstarren und sein Tempo erhöhen, frei nach dem herausfordernden Motto: »Na dann wollen wir doch mal sehen!« Das Spiel ist eröffnet. Ich antworte, indem ich meinerseits Entschlossenheit demonstriere, todesmutig meinen ersten Schritt auf die Straße wage und den Blick von ihm abwende. Ich lege mein Schicksal, und das seines Führerscheins, in seinen Bleifuß. Schließlich will ich hinüber, und vor solchem Gesindel werde ich auf mein Fußgängerprivileg nicht verzichten. Viele geben jetzt klein bei und bremsen, doch manche erhöhen noch mal den Einsatz und beginnen, wild zu hupen. Dies ist der Augenblick, um zum Märtyrer all der Opas und Omas zu werden, die eingeschüchtert teure Minuten ihres Lebensabends an israelischen Zebrastreifen vergeuden und darauf warten, dass jemand sie über die Straße lässt. Ich gehe in die Mitte der Straße und hoffe, dass der Fahrer keine Dellen riskieren mag. Außerdem sind Waschstraßen teuer. Rien ne va plus.
Er bremst mit quietschenden Reifen und verflucht mehrere Generationen meiner Vorfahren, vor allem mütterlicherseits. Ich bin jedoch zufrieden, immerhin habe ich ihn zum Stehen gebracht. Daheim komme ich mit sinkendem Adrenalinspiegel und zitternden Knien wieder zu Sinnen. Aber insgeheim freue ich mich: Vielleicht bringe ich morgen früh auf dem Weg zum Supermarkt wieder einen Unverbesserlichen mit schierer Willenskraft zum Stehen?
Jeden Freitag zur Demo
An gleich mehreren Orten im israelisch besetzten Westjordanland gibt es jedes Wochenende eine Demonstration
Im Wagen beginnt Roi Wagner mit einem Sicherheitsbriefing. Er hat Erfahrung. Der siebenunddreißig Jahre alte Aktivist fährt seit Jahren zu den
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