Lesereise - Israel
vor, Juden zu finden, die an diesen Daten nach Auschwitz gekommen waren, um einen Querverweis zwischen ihren tätowierten Nummern und dem Dokument zu haben.« In diesem Augenblick krempelte einer seiner Beamten den Ärmel hoch: »Er war ein Holocaust-Überlebender, und seine Nummer stand auf dem Dokument. Niemand von uns hatte vorher gewusst, dass er in Auschwitz gewesen war.«
So wie Bach entdeckte ganz Israel in den vier Monaten des Prozesses die Überlebenden in seiner Mitte. Plötzlich vernahm man das Schicksal eines Viertels der Bürger, das vorher nicht wahrgenommen worden war. »Sechs Millionen Opfer wurden ermordet, aber Zehntausende, die alle Abteilungen der Nazihölle durchwandert und auf wunderbare Weise überlebt haben – sind sie nicht auch Opfer?«, fragte jetzt die Tageszeitung Davar . Für die Überlebenden war dies nicht leicht: »Alte Wunden und Narben werden wieder aufgerissen. Alles, was sie […] versuchten, zu vergessen, wird nun wieder auferstehen. Viele unschuldige Opfer werden in den kommenden Monaten leiden«, mutmaßte die Zeitung Haaretz . Kurzfristig nahm die Zahl der Selbstmorde unter Schoah-Überlebenden zu, Haaretz sprach von einer »Massenhysterie«.
Doch jetzt konnten sie ihre Geschichte erzählen und wurden nicht mehr verachtet. Das Gerichtsverfahren wurde zu einem kollektiven Heilungsprozess und veränderte das Bewusstsein und Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft: »Papa, warum hassen uns alle Menschen so?«, fragte Bachs kleine Tochter eines Abends, als er vom Prozess heimkam und ihr zum ersten Mal von der Schoah erzählt wurde. »Es ist kriminell zu behaupten, die Juden hätten […] zu Hitlers Zeiten anders handeln können, als sie es taten«, schrieb der ultranationale Dichter Uri Zvi Grinberg. Der vernichteten Welt des europäischen Judentums wurde Anerkennung gezollt, das »neue, hebräische« Israel söhnte sich mit seinen jüdischen Wurzeln aus. Im Staatsradio konnte man nun erstmals Sendungen nicht nur im »zionistischen« Hebräisch, sondern auch in der ehedem verbotenen Sprache der jüdischen Diaspora, Jiddisch, hören. Israelische Schulen begannen, den Holocaust zu lehren, Kinder wurden dazu angehalten, Israel nicht mehr als einen Bruch mit der Geschichte und radikale Neuerfindung zu betrachten, sondern als Weiterentwicklung einer zweitausend Jahre alten jüdischen Existenz im Exil. Gideon Hausner fasste die neue Weltanschauung zusammen: »Wir und die ermordeten Juden sind eins.« Heute sollen junge Israelis nicht mehr in archäologischen Ausgrabungen nach den Wurzeln ihrer hebräischen, biblischen Kultur suchen, sondern in die Vernichtungslager Europas reisen, um wieder an die ausgelöschte Kultur des jüdischen Osteuropa anzuknüpfen.
Viele Historiker sehen im Eichmann-Prozess einen Wendepunkt, der einen Wandel der israelischen Gesellschaft symbolisiert. Wissen über die Details der Schoah wurde zu einem Bewusstsein, zahllose Opfer zu Individuen, Lämmer zu Helden, Israelis zu Juden, die Diaspora vom Exil zum kulturellen Erbe. Bach stimmt dem nationalen Schriftsteller Haim Guri zu, der damals feststellte: »Keiner von uns hat den Gerichtssaal so verlassen, wie er hineingekommen ist.« Die Schoah wurde zu einem Grundbestandteil israelischer Staatsräson. »In nur zwei Dingen zeigt sich in den Augen der Weltöffentlichkeit der besondere Charakter Israels als jüdischer Staat«, schrieb der Generaldirektor des Außenministeriums, Haim Yahil, damals. »Das Erste ist die rettende Funktion des Staates, in dem jeder Jude einen Platz hat. […] Das Zweite ist der Umstand, dass der Staat Gerechtigkeit für sein Volk verlangt und diejenigen richtet, die die Nation und ihr Existenzrecht bedrohen.« Israel änderte sein Selbstverständnis: Es sollte nicht mehr der Wohnort einer elitären Minderheit sein, die einen neuen Menschenschlag und eine Mustergesellschaft schaffen wollte, sondern sicherer Hafen für verfolgte Juden. »Es gibt keine Sicherheit dafür, dass der Holocaust sich nicht anderswo wieder ereignen wird«, sagte Hausner vor Gericht. »Deswegen müssen wir dieses Land […] schätzen und beschützen, es ist unsere letzte Zuflucht.«
Die Fähigkeit, wieder zu lachen, schöpft Bach aus dem Stolz auf seinen Staat: »Als die israelischen Richter zu Beginn des Prozesses den Saal betraten, mit dem Staatswappen hinter sich, und Eichmann, dessen einziges Bestreben es gewesen war, unser Volk zu vernichten, aufstand und vor dem Gericht eines souveränen
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