Lesereise - Jakobsweg
gegangen, haben also mit den »geschummelten« 7,5 (der nette Autofahrer vor Estaing!) schon 321 Kilometer zurückgelegt. Bis Roncesvalles, der ersten Station in Spanien, liegen noch 451 Kilometer vor uns. Und heute habe ich in einem Wanderführer entdeckt, dass es von Roncesvalles bis Santiago 787 Kilometer sind. Also haben wir nach heutigem Stand nur noch 1238 Kilometer vor uns. Nach diesem freudigen Ausruf meinerseits hat sich René in hysterischen Lachkrämpfen gewunden. Bis zur nächsten Hochrechnung verabschiede ich mich! Ba.
P.S.: Ich beginne jetzt erst, alles hinter mir zu lassen und mich in unser Vagabundendasein einzuleben. Ich bin überrascht, wie lange ich brauche, die Distanz zum »normalen« Leben zu finden. Ich hätte mir eigentlich erwartet, dass sich das einstellt, sobald wir weg sind; dass wir dasselbe Gefühl haben wie damals, als wir die Schultaschen ins Eck warfen und zwei Monate große Ferien hatten. Aber so ist es nicht. Ich habe den Eindruck, die Schultasche immer noch mitzutragen.
Cahors, 8. Oktober
In der Früh braucht man immer so lange. Was man als Pilger macht, ist nicht packen, sondern Tag für Tag einen Haushalt auflösen und übersiedeln: das Olivenöl in der Coca-Cola-Plastikflasche aus der Küche sowie das Salz im kleinen Alu-Döschen; die Seife aus dem Bad und das Handtuch vor dem Fenster und das T-Shirt von der Heizung und das Schuhfett aus dem Vorzimmer und die Butter sowie den Käse aus dem Kühlschrank – bis man das alles verstaut und im Rucksack untergebracht hat, der perfiderweise jeden Tag eine Spur kleiner wird, vergeht eine Stunde. Aber heute sind wir schon um acht Uhr weggekommen, da war es noch fast finster. Die Nonnen frühstücken nämlich sehr früh, und so sind wir um sieben Uhr mit den Kirchenglocken aufgestanden.
Der schreckliche »Bois du Grézal« war, wenig überraschend, ein nettes Eichenwäldchen. Die Räuber treten ja seit der Einführung der bürgerlichen Gesetzgebung in unauffälligeren Masken auf.
Im »Landeanflug« auf Cahors (es geht da ziemlich steil bergab) sangen wir, und zwar Kinderlieder oder die Kennmelodien von Kinder-Fernsehserien, allerdings mit schweren Textmängeln (»Ich hab’ ein Haus, ein Äffchen und ein Pferd, ein Äffchen und ein Pferd, ein Äffchen und ein Pfe-e-erd«). Gehen schlägt sich aufs Hirn. Manchmal regt es ja zum Denken an, aber im Übermaß – da ist es so ähnlich wie mit dem Alkohol. Es fällt uns auch auf, dass wir einander im Gehen seit einigen Tagen häufig Geschichten aus unserer Kindheit erzählen. Wir beginnen plötzlich auch, nachts von Kindertagen zu träumen, von längst verlassenen Wohnungen oder längst verlorenen Freunden. Es sind meistens Geschichten, die wir uns noch nie erzählt haben, die wir auch selbst längst vergessen glaubten wie viele bedeutungslose »Nichtigkeiten« – das riesige Baumhaus vom Siller zum Beispiel, oder dass ich eine Hausaufgabe für meinen Freund Severin schreiben musste, weil er gemerkt hat, dass ich meine eigene bei Alfred Polgar abgeschrieben hatte. Wann hat man schon jemals so viel Zeit, seine Gedanken völlig ziellos schweifen zu lassen? Genau dieses Schweifenlassen der Gedanken, das »freie Assoziieren«, spielt in der Psychoanalyse eine wichtige Rolle. Vielleicht kommt daher der therapeutische Effekt, der dem Jakobsweg so oft nachgesagt wird. Vielleicht handelt es sich beim Pilgern um eine Art von »Psychowalkalyse«.
Cahors taucht ganz plötzlich hinter einer Hügelkuppe auf, und genau gleichzeitig, als wäre es ein schlecht synchronisierter Film, beginnt der Lärm der Stadt – Autos, Züge, Rettung, Feuerwehr, ein großes Brausen und Rauschen und Tröten. Cahors ist die größte Stadt auf dem französischen Weg. Sie war mir bislang nur als Herkunftsort eines Weines bekannt, was insofern verwunderlich ist, als es hier weit und breit nur Eichenwälder gibt. Und natürlich Vororte mit geschmacklosen Villen, deren Hauptattraktionen die automatischen Garagentore und die Alarmanlagen sind. Irgendwann steht dann plötzlich: Cahors. Wir sind drinnen – und fühlen uns doch draußen. Seltsam, wie sehr schon 15 Tage eines ganz anderen Lebens die Wahrnehmung verändern. Wir gehen vorbei an einer Schule, »Lycée« steht darauf. Es ist ein hässlicher, von Stacheldraht umgebener Betonbau. Uns fallen diese Bauern ein, die ihre Tiere nie ins Freie lassen. Auf einem asphaltierten Spielplatz laufen die Kinder einem Ball hinterher. Dahinter der Wald – weggezäunt. Erst langsam
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