Lesereise - Jakobsweg
Schnurstracks machte sich der Richter auf den Weg zum Galgen, und siehe da – der Sohn lebte noch und konnte gerettet werden.
Über das weitere Schicksal der historischen Hühner ist nichts bekannt. Die heutigen werden einmal pro Woche ausgetauscht. Besser als in einer Legebatterie haben sie es im heiligen Schrein allemal.
Belorado, 1. November
Noch nie haben wir auf der Bühne eines Theaters gekocht. Heute ist Premiere. Tatsächlich: Das refugio von Belorado ist in einem alten Theater untergebracht, und die Küche steht auf der ehemaligen Bühne. Vor der Einführung des Fernsehens fanden hier regelmäßig Aufführungen statt. Aber auch so eine Gruppe von Pilgern ist ein ziemliches Spektakel. Die Damen aus dem Québec, der Belgier und die fünf Spanier sind hier, und alle lagern wir um den altmodischen Gasofen, zwischen den Wäschestücken, die wir auf improvisierten Leinen zum Trocknen aufgehängt haben.
Auch Ursula war vor zwei Tagen hier und hat, wie wir dem Herbergsbuch entnehmen, die Stimmung des alten Theaters sehr genossen – nach einer schrecklichen Etappe. Der offizielle Weg geht nämlich 19 km an der N 120 entlang – Asphalt, Staub, Lärm, Lastwagen, Autoraser. Wir nahmen einen Umweg, der durch die einsamen Dörfer südlich der Hauptstraße führte. Zunächst hielten wir diese Dörfer für völlig verlassen. Bei einem Brunnen in Viloria de Rioja aßen wir Käse, Brot, Oliven. Ich kann mich nicht erinnern, je einen so warmen 1. November erlebt zu haben. Plötzlich läuteten die Kirchenglocken. Und fast zeitgleich strömten aus allen Häusern die Menschen im Festtagsgewand zur Messe. Viloria lebt also doch! Ein paar Männer standen noch lange vor der Kirche, rauchten und lachten. Die Glocken mussten dreimal läuten, bevor auch sie sich bequemten, zur Messe zu gehen. Es gibt manche, die bleiben ewig Schüler.
Die Leute hier sind arm, das verraten nicht nur die prächtigen Feiertagsgewänder. Je ärmer ein Landstrich, desto wichtiger das Festtagskleid. Die Häuser sind allesamt verfallen; Neubauten gibt es kaum, und wenn, dann sind sie nicht fertiggestellt. Die Hunde sind spindeldürr, die Hühner schmutzig, und in irgendwelchen Hinterzimmern müssen Schweine versteckt sein, denn es riecht nach ihnen. Abfall liegt hier überall herum, egal, ob in den Dörfern oder auf den Feldern. Noch nie ist es mir so leichtgefallen, Papiertaschentücher nicht in einen Mülleimer zu werfen – nach dem Motto: auch schon egal. Die Flüsse gleichen oft Kloaken, und von den großen Wäldern sind nur unbedeutende Reste geblieben. Dass Bäume hier gut gedeihen und das Wasser vermehren könnten, beweisen die schönen Eichenhaine, die wir gestern gesehen haben. Aber man denkt offensichtlich in eine andere Richtung: Es gibt oft prachtvolle, breite neue Straßen, die die aussterbenden Orte verbinden. Das nennt sich wahrscheinlich Infrastrukturförderung und wurde in irgendwelchen Büros in Madrid oder Brüssel ersonnen. Die Straßen verenden im Niemandsland und werden nur von verirrten Touristen befahren. Die Dorfbewohner, die sich ein Auto leisten konnten, haben ohnehin längst das Weite gesucht.
Hornillos del Camino, 2. November
In der Früh in Belorado regnet es in Strömen. Und eine seltsame Epidemie scheint unter unseren Mitpilgern ausgebrochen zu sein – bis auf eine der Damen aus dem Québec wollen heute alle nicht gehen. Ja, die Etappe gestern war anstrengend; die Nacht mit wenig Schlaf gesegnet, denn erstens war der Belgier da, und zweitens gibt es auch Schlaflosigkeit aus Erschöpfung. Immerhin sind wir seit über fünf Wochen unterwegs. Der strömende Regen lädt ebenfalls nicht gerade zum Weitergehen ein. Und außerdem, so lautet ein Gerücht, könnte das refugio von San Juan de Ortega bereits geschlossen haben. Und überhaupt: Auch die mittelalterlichen Pilger haben manche Strecken zu Pferd oder auf Karren zurückgelegt.
Kurz darauf sitzen wir im Bus nach Burgos. Einerseits sind wir froh, denn wir sind erschöpft. Das lange Gehen hat seine Spuren in chronischen Schmerzen, vor allem in der Hüfte, hinterlassen. Andererseits tut es uns leid um die schöne Etappe und vor allem um die romanische Klosterkirche von San Juan de Ortega. Sie liegt einsam in einem Nadelwald. Abends, so haben wir gehört, lädt der Priester die Pilger zu einer Knoblauchsuppe ein. Aber es regnet den ganzen Tag weiter, und wir sind froh, die Wassermassen vom geheizten Bus oder von den Cafés von Burgos aus beobachten zu können.
Burgos
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