Lesereise - Jakobsweg
gefällt uns nicht. Es wirkt kalt, großspurig. Die Kathedrale, düsterste Gotik, fällt durch besonders angeberischen Prunk auf. Wir wohnen darin zufällig dem Begräbnis des im 90. Lebensjahr verstorbenen Erzbischofs von Burgos bei. Hinter seinem Sarg paradieren zuerst der Klerus, dann das Militär, dann die Politiker – ein Abbild der Gesellschaftsordnung? Wie auch immer, man merkt Burgos noch an, dass es der Regierungssitz Francos während des Spanischen Bürgerkriegs war. Obwohl es immer noch regnet, wollen wir nicht bleiben; die refugios in den großen Städten versuchen wir, seit unseren Erfahrungen in Logroño, zu meiden. Und trotz aller Sehnsucht nach Rast: Der Camino Real, der königliche Weg zwischen Burgos und León, lockt uns wieder. Nun wartet die Meseta auf uns, eine für ihre Trockenheit und Einsamkeit gefürchtete Hochebene. Von Trockenheit merken wir nichts. Wir gehen durch strömenden Regen, und das bei orkanartigem Gegenwind. Durch und durch nass erreichen wir das Straßendorf Hornillos del Camino bei Einbruch der Dunkelheit. Die hospitalera des refugios hat Erbarmen mit uns und stellt uns ein bisschen Holz für den Ofen zur Verfügung; so können wir unsere Kleider trocknen und uns selbst ein wenig wärmen. Wir blättern im Herbergsbuch und lesen vergnügt, wie im Sommer alle Pilger über entsetzliche Hitze und Durst klagen. »Mit letzter Mühe in diese Oase geschafft!« »Ein Königreich für ein Coca-Cola!« Darunter: »Ein Coca-Cola für das Pferd!« Die Zeichnung eines Verdurstenden, darunter »Waaasssser!« Ach, muss Hitze schön sein, denken wir uns und rücken noch ein bisschen näher an den Ofen.
Castrojeriz, 3. November
Die Meseta ist ein ungastlicher Flecken Erde. Wir kämpften den ganzen Tag über mit eiskaltem Gegenwind und mit dem nassen Lehm, der, von kaugummiartiger Konsistenz, uns bei jedem Schritt am Boden festkleben wollte. Wir gingen schweigsam hintereinander her, denn jedes Reden in dieser unendlichen Weite schien ungehört zu verhallen. Wir grübelten beide vor uns hin. Mir fiel eine Geschichte ein, die Guy-Marie, der Kanadier, uns in Frankreich erzählt hatte. Ein Bekannter von ihm hatte bei der Durchquerung der Meseta einen Herzinfarkt erlitten. Es war ihm unglaublich übel und schwindlig geworden, doch er hatte sich immer weitergeschleppt, weil er in der Einöde nicht liegenbleiben wollte. Erst später wurde der Herzinfarkt diagnostiziert. Der Arzt meinte, das Weitergehen habe den Kreislauf in Schwung gehalten und den Mann gerettet. Der Arzt war von dieser Errettung so beeindruckt, dass er im darauffolgenden Jahr selbst den Jakobsweg gegangen ist. Ja, an solche Geschichten dachte ich. Und dabei fiel mir auf, dass mir selbst auch leicht schwindlig war … Eine kleine Schwäche? Und das Herz? Schlägt das nicht ein wenig unregelmäßig? Ein Herzinfarkt in jungen Jahren? Kommt öfter vor, als man denkt … Muss ich mich kurz hinsetzen? Einen Schluck trinken? Nein, lieber nicht, lieber weitergehen … Wer weiß, ob ich noch einmal aufstehen will. Ein Blick rundherum – nichts, nur Erde und Horizont. Ein Blick hinauf – düstere Wolken und zwei Geier. Plötzlich ein Ort, den man erst sieht, wenn man direkt vor ihm steht – Hontanas. Die Orte ducken sich hier in Mulden, um sich gegen den fanatisch über die Weiten fegenden Wind zu schützen. Leider finden wir keine geöffnete Bar in Hontanas, nur einen zitternden Hund und eine schwarze Witwe.
In Castrojeriz anzukommen ist kein großer Trost. Der Ort ist geprägt von Düsternis und Tod. Alle Fassaden bröckeln ab, viele Häuser sind halb verfallen. Kein Mensch ist auf der Straße – kein Wunder bei diesem Wetter. Wir stapfen durch die engen Gassen. Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass uns jemand anstarrt. Es sind zwei Totenschädel, die von der Mauer der Kirche Santo Domingo herunterglotzen, als wollten sie uns verwünschen.
Die Meseta ist anscheinend für alle eine Herausforderung. Selten haben wir ein so »mystisches« Herbergsbuch wie in Castrojeriz gesehen – alle Eintragungen drehen sich um Not und Ängste, um Krisen und Schmerzen, um Gott und die Welt. Von großer Traurigkeit ist die Rede oder von übergroßer Dankbarkeit für die Aufnahme in dem refugio. Die Wüste bringt alle auf metaphysische Gedanken. Kein Wunder, dass die monotheistischen Weltreligionen aus der Wüste stammen.
Ein Brasilianer ist hier. Er ist völlig erschöpft und liegt blass und mit fiebrigen Augen auf seinem Bett. Er sieht ein bisschen aus
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