Lesereise - Jakobsweg
haben wir in schwarze Müllsäcke gepackt, und so sind wir durch die Straßen von Logroño gelaufen. Die Menschen haben die Straßenseite gewechselt, wenn wir uns genähert haben, und zwei, die wir nach dem Weg zu unserem refugio fragen wollten, sind schlicht davongelaufen. Man hält uns offensichtlich für Obdachlose. Und wären wir nicht schnell genug gelaufen, wären wir auch zu welchen geworden.
Jetzt sitzen wir in der sterilen Küche mit den netten Botschaften an der Wand (»You must wash up the plates« oder: »You have to leave at 8 in the morning«) und trinken Rioja. Nicht, um schlafen zu können, nein, darüber machen wir uns keine Illusionen. Nein, wir trinken, um das Primärgrausen davor zu überwinden, uns mit den feuchten Hosen und Jacken auf die Plastikbetten zu legen. Die Idee, ein Hotel zu nehmen, ist uns leider gerade erst jetzt gekommen. Und jetzt ist es zu spät, denn wir sind eingesperrt. So schnell kann die Entwicklung vom Obdachlosen zum Gefängnisbruder gehen.
Eine Nacht später
Die ersten Stunden Schlaf waren ganz ohne Tadel. Leider mussten wir bei unserem ersten Erwachen um zwei Uhr früh feststellen, dass wir erstens verkatert und zweitens Publikum eines außergewöhnlichen Schnarchkonzertes waren. Ein Belgier und zwei Spanier lieferten sich ein Duell der bösen Tiere. Irgendwann im Morgengrauen sind wir wieder eingeschlafen. Diese Zeit muss der Belgier genützt haben, um die Schlusspointe unter unsere Wäscheaktion zu setzen: Er hat nämlich, in der Küche, in der wir unsere nassen Sachen aufgehängt hatten, drei Zigarillos geraucht, wodurch Schlafsack, Pullover & Co. geruchsmäßig feinst imprägniert wurden. Und jetzt müssen wir raus (»we have to leave«)! Alles Liebe, Deine Ba.
Nájera, 30. Oktober
Logroño gefällt uns bei Sonnenschein am nächsten Tag auch nicht besser. Der Weg bis nach Nájera führt viel an der N 120 entlang, einer viel befahrenen Schnellstraße, auf der stundenlang Lastwagenkolonnen an einem vorbeibrausen. Besonders frustrierend dabei ist: Man weiß, dass diese stinkenden Ungetüme, die da an einem vorbeidröhnen, neun Minuten später an jenem Ziel sind, das zu erreichen wir den ganzen Tag gehen. Doch der originale Verlauf des historischen Weges geht den Spaniern über alles – selbst über die N 120. Vielleicht hängt das aber nicht nur mit dem Fanatismus für historische Genauigkeit zusammen, sondern auch damit, dass in Spanien einer, der geht, ohnehin ein armer Hund ist. Dass Gehen ein Luxus für Privilegierte ist, beginnt sich erst langsam herumzusprechen, weil es hier einfach noch zu viele Menschen gibt, die gehen müssen, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt.
An der Friedhofsmauer von Navarrete erinnert eine Steintafel an die Fahrradpilgerin Alice de Craemer, die 1986 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Uns wundert es fast, dass nicht mehr Unfälle passieren. Oft muss man die Hauptstraße überqueren, und oft hinter Kuppen oder engen Kurven. Sosehr wir uns in Österreich über den Vorschriftenwahn unserer Gesetzgeber ärgern – hier würden wir uns ein bisschen Reglementierung wünschen. Wir folgen, so oft es geht, nicht dem Weg an der N 120, sondern unserem französischen Pilgerführer, der Alternativen vorschlägt. Wir machen dabei oft riesige Umwege, und dennoch sind wir abends weniger erschöpft als jene, die dem offiziellen Weg gefolgt sind.
Nájera liegt schön zwischen sandfarbenen Felsen, und auch das refugio hier ist sehr hübsch, mit vielen Stockwerken und vielen Betten. Zum Glück. Denn heute sind wir 15 Pilger, lächerlich für sommerliche Verhältnisse, aber für Ende Oktober viel. In Küche, Bad und Klo herrscht Schichtbetrieb. Wir sind zwei Brasilianer, zwei Damen aus dem Québec, der Belgier, Charles, der morgen wieder zurückfährt, fünf spanische »Wochenendpilger«, die den Weg etappenweise zurücklegen, sowie zwei Franzosen, die gerade von Santiago zurückgehen. Es sind zwei junge Arbeitslose, die, statt zu Hause herumzusitzen, das Gehen zu ihrer Philosophie erhoben haben und schon seit Monaten auf dem Jakobsweg unterwegs sind. Sie sind zwei richtige »Veteranen« des camino und erzählen ihre Geschichten mit einer Überheblichkeit, als hätten sie höchstpersönlich den Jakobsweg erfunden. Immer wieder beginnen sie zu streiten, weil jeder der größere Experte sein will. Eines wird deutlich: Oftmaliges Begehen des Jakobswegs macht nicht automatisch weise.
Ich komme wenig zum Schreiben, denn abends wird viel
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