Lesereise - Jakobsweg
diskutiert. Der Belgier heißt Willy und ist Professor für vergleichende Kulturwissenschaft, Spezialgebiet: Schamanismus. Er spricht ebensogut Deutsch wie Französisch und eröffnet uns spannende Zusammenhänge. Beim Gehen, meint er, käme der Nomade aus uns allen wieder heraus, denn ursprünglich sei die Menschheit nomadisch gewesen. Seit der unglückseligen Geschichte mit Abel, dem nomadischen Hirten, und Kain, dem sesshaften Bauern, habe sich die Menschheit aufgeteilt und verachte nun den kleinen nomadischen Teil (zum Beispiel Zigeuner, Tuaregs oder Kurden, die, wo immer sie auftauchen, von den Staatsmächten verfolgt würden). Dabei seien alle Religionsgründer Umherziehende, Pilger gewesen, und sie bezeichneten ihre Lehren auch als »Weg« und nicht als »Standpunkt«. Die Schamanen – ob in Afrika, Asien oder Amerika – legten ebenfalls oft viele tausend Kilometer zu Fuß zurück, wenn sie sich auf Visionssuche befänden. Auch der Jakobsweg, meint der Professor, sei viel älter als das Christentum. Die Wurzeln des Weges sehe er im heidnischen Schamanismus. Santiago sei eine der wichtigsten keltischen Nekropolen gewesen, eine heilige Begräbnisstätte, im äußersten Westen des Kontinents gelegen, also in der untergehenden Sonne, im Tod. Darauf deute auch der Name hin, der sich möglicherweise von Compostum, Friedhof, ableite. Es gebe viele Naturheiligtümer entlang des Jakobswegs, und neben jeder Kapelle, neben jeder Kirche befänden sich – oft noch heute – ein Grabhügel, ein Dolmen oder eine Quelle. Später habe die gnostische Tradition, etwa durch die Tempelritter, sich des Weges angenommen, der eigentlich immer der Pilgerweg der Häretiker gewesen sei. Erst seit es durch die Religionskriege schwieriger geworden war, nach Jerusalem zu pilgern, habe Santiago als katholische Pilgerstätte eine wichtige Bedeutung.
Santo Domingo, 31. Oktober
Wir sitzen in einer Bar in Santo Domingo, und rund um uns singen, tanzen und musizieren ausgelassene Menschen, die bereits den ganzen Abend lang mit Trommeln, Pauken und Trompeten durch die Stadt gezogen sind. Sie tragen Halstücher, auf denen steht: »Quintada de los ›55‹, 1943–1998«. An diesem Tag feiern alle, die 1998 55 Jahre alt geworden sind. Es gibt gar keinen bestimmten Grund für diese Feier. Es wird gefeiert, um zu feiern. Es ist schön, dem Reigen zuzusehen und den Liedern zu lauschen. Das alte Klischee, dass die Spanier Meister der fiesta seien, bestätigt sich. Selten noch haben wir eine so ansteckend fröhliche Ansammlung von Menschen gesehen, die beim Feiern leicht sind und tänzerisch und nicht dumpf vom Alkohol und von der Pflicht zur Ausgelassenheit wie bei uns.
Wir haben heute ein Zimmer in einer Art »Klosterhotel« genommen. Noch eine Nacht mit Willy hätte ich nicht ausgehalten, und wenn er noch so interessante Geschichten erzählt. Er schnarcht nämlich sehr unregelmäßig, mit weit geöffnetem Mund, aber gerade diese Unregelmäßigkeit vollzieht sich mit einer niederschmetternden Regelmäßigkeit. Wenn er einmal aufhört, ist man sicher, dass er gerade gestorben ist, was auch nicht beruhigt.
Die Etappe nach Santo Domingo ist kurz und schön, und so hatten wir nachmittags genügend Zeit und Kraft für einen kleinen Rundgang im Ort. Vor allem die Kathedrale ist sehr sehenswert: Es leben zwei Hühner darin, in einem gläsernen Schrein. Der Hahn hat sogar gekräht, als wir ihn betrachteten, und das bringt Glück. Die Geschichte mit den Hühnern geht auf eine Legende zurück: Ein junger Mann pilgerte mit seinem Vater und mit seiner Mutter nach Santiago de Compostela. Während der Rast in Santo Domingo verliebte sich eine junge Herbergstochter in ihn. Als der junge Pilger sie nachts abwies, rächte sie sich an ihm. Sie versteckte einen silbernen Becher in seinem Gepäck. Der Mann wurde des Diebstahls beschuldigt und gehängt. (Man soll liebende Frauen auch nicht abweisen, lehrte später Alexis Sorbas.) Die verzweifelten Eltern pilgerten weiter nach Santiago. Dort verriet ihnen der heilige Jakob, Schutzpatron der Pilger, dass ihr Sohn noch lebe. Auf ihrem Rückweg machten die Eltern in Santo Domingo halt. Sie wandten sich an den Richter, der gerade eine große Portion Geflügel aß. Voll Hohn sagte der Richter, der nicht beim Essen gestört werden wollte: »Euer Sohn lebt genauso wie dieser Hahn und diese Henne hier auf meinem Teller!« Im selben Augenblick noch begann die Henne mit den Flügeln zu schlagen und der Hahn zu krähen.
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