Lesereise - Jakobsweg
wie Ronaldo nach einem verpatzten Elfmeter. »Als Pilger nimmt man alles so persönlich«, sagt er. »Wenn mir den ganzen Tag über der Wind ins Gesicht bläst, schreie ich in den Himmel hinauf – Gott, hast du ein persönliches Problem mit mir!?!«
Die Wahrheit ist: Wir haben ein persönliches Problem mit Gott.
Auch wir legen uns hin und schlafen erschöpft in die Dämmerung hinein.
Astorga, 6. November
Danach passierte eines jener »Wunder des Weges«, von denen man so oft hört, die man aber wahrscheinlich nur als Wunder ansieht, wenn sie einen selbst betreffen.
Nach dem Tag in der Meseta waren wir wieder einmal völlig am Ende. War es in Moissac vor allem Barbara gewesen, die ernsthaft an eine Heimreise dachte, so wollte diesmal ich die Reise unterbrechen. Im Frühling, sagte ich mir, könne man sehr gut wieder beginnen, sehr wohl wissend, dass ich im Frühling gar keine Zeit haben würde; aber der Regen, sagte ich, und die eiskalten refugios und die Schmerzen in der Hüfte und im Knie und vor allem diese endlose Weite der Meseta, in der einem die Kraft regelrecht ausrinnt, besonders, wenn man aus einem Alpenland kommt … Und außerdem, sagte ich, würde der Pilgerweg von nun an bis León entweder direkt neben der Hauptstraße oder auf künstlich gestalteten Wegen verlaufen. Mein Wille war gebrochen. Ich glaube, von Schopenhauer stammt dieser Satz: »Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.«
Auf dem Weg zum Abendessen trafen wir im Vorraum des refugios von Castrojeriz einen Mann, der freundlich grüßte – auf Französisch. Wir kamen ins Gespräch und erfuhren, dass Jean-Pierre einen Teil des Pilgerweges letztes Jahr zurückgelegt hatte und dass er den camino nun seiner Frau zeigen wolle. Er sei froh, uns zu treffen, meinte er, und wenn wir mit ihnen zu Abend essen würden, dann könne er seiner Frau auch endlich zwei »ganz echte« Pilger zeigen.
Wir nahmen das Angebot gerne an und aßen mit Jean-Pierre und Simone. Sie sind so um die fünfzig Jahre alt, aus der Nähe von Bordeaux, auf Anhieb sympathisch. Jean-Pierre ist Arzt. Das trifft sich gut – denn wir haben uns schon seit einiger Zeit gefragt, ob es vernünftig ist, gegen den Willen seines Körpers jeden Tag weiterzugehen. Jean-Pierre lässt sich die Symptome schildern, stellt Fragen, meint, eine kleine Pause würde den Gelenken guttun. Er macht uns einen Vorschlag: Wir könnten den beiden anderntags unsere Rucksäcke mitgeben, sie würden sie mit ihrem Auto zur Ermita San Nicolás bringen, dort könnten wir noch gemeinsam zu Mittag essen. Vorausgesetzt natürlich, wir würden ihnen unser ganzes Hab und Gut so ohne Weiteres anvertrauen.
Das tun wir gerne.
Der hospitalero von Castrojeriz, eine bärtige, apostelhafte Gestalt, weckt uns um sieben Uhr früh mit Barockmusik und Milchkaffee. Wenig später nehmen wir ein zweites Frühstück mit unseren Wohltätern, und bald darauf wandern wir im wahrsten Sinne des Wortes unbeschwert los. Alles scheint uns viel freundlicher heute. Gehen ohne Rucksack – das ist wie Urlaub. Bei der Ermita San Nicolás warten unsere Bekannten bereits auf uns. Das refugio hier hat schon geschlossen. Es wird in der Saison von der Confraternità di San Giacomo di Perugia betreut. Die italienischen hospitaleros waschen jedem Pilger, der hier ankommt, die Füße. »Keiner hat das ertragen«, erzählt Jean-Pierre, »wir sind die heiligen Handlungen nicht mehr gewohnt … Übrigens«, fügt er hinzu, »die Strecke bis nach Frómista hat nicht viel zu bieten. Aber in Frómista liegt eine der schönsten romanischen Kirchen auf dem Weg, ein hervorragendes Beispiel außerdem für Restaurationskunst. Wir wollen euch nicht davon abbringen zu gehen, aber wir schlagen euch vor, das kleine Stück nach Frómista mit uns zu fahren. Dort könnten wir dann die Kirche San Martin besichtigen und eine Kleinigkeit essen …« So geschah es. Nach dem Picknick meinte Jean-Pierre: »Der Weg geht jetzt bis Carrión de los Condes an der Straße entlang … Keine schöne Etappe, die euch da morgen erwartet. Wir möchten euch ja nicht vom Weg abbringen, aber wir schlagen euch vor …«
Solcherart haben wir drei Tage verbracht. Der Honda mutierte zum »Pilgrimsmobil«, wir erholten uns wieder, und Simone und Jean-Pierre wurden zu echten Freunden. Als wir uns in Hospital de Orbigo trennten, umarmten wir einander mit Tränen in den Augen. Wir gingen über die scheinbar endlose Römerbrücke, drehten uns immer wieder
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