Lesereise - Jakobsweg
haben beide einen leichten Sonnenbrand, so schön war es heute. Außerdem geht man hier meist so auf neunhundert Metern Höhe, da ist man der Sonne schon um einiges näher. Weil es aber auch kühl und windig ist, merkt man es nicht so.
Bis bald! Deine Ba.
Monistrol-d’Allier, 24. September
Heute, an unserem zweiten Wandertag, haben wir es zum ersten Mal geschafft, uns zu verirren. Das ist ein kleines Kunststück, denn die Wege sind wirklich sehr gut markiert: ganz österreichisch, rot-weiß. Gerade Striche zeigen an, dass es geradeaus geht, ein rechter Winkel zeigt an, dass der Weg die Richtung wechselt, ein rot-weißes Kreuz markiert jene Abzweigungen, die man nicht nehmen soll. Der Weg ist also idiotensicher.
Fast.
Wir haben dafür schon eine erste Weisheit gewonnen: Wenn man faul ist, dann kann diese Faulheit eine größere Anstrengung zur Folge haben, als wenn man gleich zu jener Wegkreuzung zurückgeht, ab der man plötzlich keine Markierung mehr gesehen hat.
Der Weg hat heute – vom bissigen Seitenwind abgesehen, für den er ja nichts kann – wieder sein Bestes gegeben und sich mit Steinmauern und Wäldchen und Kühen geschmückt. Man überquert große Felder. Dann wieder geht man in einen Wald, der genauso auch in der Steiermark liegen könnte. Immer wieder finden sich auch mittelalterliche, bauchige Steinkreuze, Hinweise darauf, dass der Pilgerweg wirklich viele hundert Jahre alt ist.
Oberhalb von Monistrol steht eine uralte Jakobskapelle, mit einem hölzernen Jakob drinnen und einer sagenhaften Aussicht draußen. Wir haben im »goldenen Buch« der Kapelle geblättert: ausschließlich schwärmerische Pilger, die Gott, der Jungfrau Maria oder dem heiligen Jakob dafür danken, dass die Welt so schön ist und dass sie gerade auf dem Jakobsweg gehen dürfen. Wir haben lange überlegt, aber uns ist nichts Schwärmerisches eingefallen. Ich fürchte, wir sind noch nicht heilig genug. Vielleicht sind wir auch einfach zu müde. Wir haben uns auf das Gehen überhaupt nicht vorbereitet, weder Körper noch Kopf, was sicher nicht sehr klug war. Jetzt tun uns natürlich die Füße weh und die Beine und die Schultern; und die Seele muss sich erst ein bisschen an das Gefühl der »Geworfenheit« gewöhnen, wie ein Philosoph sagen würde. Weniger philosophisch könnte man auch von »Ausgespucktsein« reden. Auf Monistrol-d’Allier trifft Ausgespucktsein eher zu: Der Bäcker hat geschlossen, der halbe Ort ist eine Baustelle, noch dazu eine, die ganz unten im schattigen Tal liegt. Deshalb beschließen wir, den steilen Anstieg bis nach Saugues noch zu nehmen.
Saugues, am selben Tag
Das Wetter ist zwar kühler, wenn man im Herbst geht, aber viele Früchte sind jetzt reif, und so essen wir unentwegt Brombeeren, die buchstäblich auf der Zunge zergehen und sie schwarz färben. Die vielen Brombeerstauden versüßen einem richtig den Weg – auch dadurch, dass sie immer wieder Anlass geben, Pausen zu machen. Und die braucht man auf dem Anstieg Richtung Saugues.
Hier sitzen wir im Esszimmer von Frau Martins, die eine Art private Pilgerherberge führt, nicht billig, aber sehr gepflegt. Saugues finden wir viel freundlicher als Monistrol, und so sind wir froh, noch bis hierher gegangen zu sein. Gegen Abend hin wurde es dann schon langsam finster. Gut, dass wir da noch nicht die Geschichte der bête du Gévaudan gehört hatten, eines riesigen Wolf-Ungeheuers, das heute noch, monumental aus Holz geschnitzt, auf Saugues herunterblickt. Die bête du Gévaudan tötete zwischen 1764 und 1767 über neunzig Menschen, und zwar ausschließlich Frauen und Kinder. Sonderkommandos des Königs jagten das Ungeheuer monatelang, doch ohne Erfolg. Noch heute streiten sich die Einwohner der Region, ob der riesige Wolf, der schließlich von einem Einheimischen erlegt werden konnte, wegen seiner außerordentlichen Schlauheit und Wandlungsfähigkeit nicht doch ein Werwolf gewesen ist.
Die zwanzig Leute, mit denen wir zu Abend essen, sind überwiegend Pensionisten, die nur einen kleinen Teil des Weges gehen, behütet von Begleitfahrzeugen. Das Essen ist wirklich gut: Gemüsesuppe, Lammkeule, Käse, Dessert. Vier Gänge sind in Frankreich das Minimum, auch, wenn man quasi mit der Familie isst.
Im Esszimmer ist es laut wie in einer Schulklasse, das ist meistens so mit den fröhlichen Pensionisten. Wir unterhalten uns besonders mit Jean, einem etwa 70-jährigen Franzosen, der letztes Jahr den ganzen Weg gegangen ist. Jean meint, dass er erst nach
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