Lesereise - Jakobsweg
etwa zehn Tagen verstanden habe, warum er den Jakobsweg gehe. »Ich habe geglaubt, ich gehe den Weg, weil ich der Beste und der Schönste bin«, erzählt er offenherzig. »Aber dann bin ich draufgekommen, dass ich ihn aus viel niedrigeren Gründen gehe.« Noch niedriger? Er hat es uns nicht verraten. Wir sind schon gespannt, ob wir in zehn Tagen auch eine ähnliche Eingebung erhalten …
La Roche, 25. September
Wie schön wäre die heutige Strecke bei gutem Wetter gewesen: Mit geheimnisvollen Steinkreisen und kugeligen Buchen und verzauberten Eichenhainen und wispernden Bächen – was hätten wir im Schatten gepicknickt und unsere Füße im kühlen Wasser gebadet! Aber es hat geregnet, und die ganzen 22 Kilometer bis nach La Roche blies uns ein eisiger Wind entgegen. Nach unserer zehnminütigen Mittagspause mit Käse, Brot, Wollmütze und Windjacke waren wir völlig durchgefroren. Dabei sagt Madame Jalbert, die uns hier in La Roche beherbergt, dass wir zwar Pech mit dem Wetter, aber eigentlich eine gute Jahreszeit gewählt hätten. Der Frühling sei zwar noch schöner, weil da alles blüht und duftet, doch zu Ostern habe es noch wie wild geschneit (immerhin sind wir auf 1200 Metern). Im Sommer dagegen sei es oft wahnsinnig heiß, und außerdem seien da die Pilgerkarawanen unterwegs: zwanzig bis dreißig Leute täglich. »Das ist mir zu viel Arbeit«, meint Madame Jalbert, »ich weiß nicht, ob ich das noch lange machen kann. Vor zehn Jahren gab es fast gar keine Pilger. Und jetzt werden es jedes Jahr mehr!« Wir sitzen bei ihr in der Küche, trinken Tee, sehen ihr beim Kochen zu und fühlen uns ein bisschen wie einst als Kind in Großmutters Küche.
»Vor neun Tagen«, erzählt Madame Jalbert, noch immer aufgeregt, »war eine Deutsche da. Sie ist etwa 25 Jahre alt, spricht kein Wort Französisch, hat nur hier geschlafen, nichts gegessen! Sie ist die ganze Etappe von Monistrol bis hierher gegangen, fast vierzig Kilometer! Und am nächsten Tag ist sie um sechs Uhr früh weg, da war es noch stockfinster! Diese Deutschen!«
Saint-Alban-sur-Limagnole, 26. September
Gestern habe ich noch geschrieben, dass Madame Jalbert nett ist. Stimmt auch, aber warum hat sie uns um acht Uhr früh in diesen Regen hinausgeschickt? Heute sind wir unsere Rekordetappe gegangen: ganze acht Kilometer. Allerdings haben wir nur knapp eineinhalb Stunden gebraucht, wir waren also wirklich schnell. Tatsächlich sind wir – auch auf dem gesamten weiteren Weg – nie wieder so wenig, aber auch nie wieder so schnell gegangen. Es hat auch später noch oft geregnet, aber zum Glück nie wieder so wie in diesen eineinhalb Stunden.
Was da vom Himmel fiel, das waren keine Tropfen, sondern Wasserbomben, die auf unserer garantiert wasserdichten Regenausrüstung regelrecht explodierten. Unsere nur durch die Pelerine geschützten Hosen leisteten den Wassermassen etwa zehn Minuten lang erbitterten Widerstand, bevor sie sich mit kalter Feuchtigkeit vollsogen. Durch die Wirbelwinde, die uns von allen Seiten anfielen, wurden sie dafür besonders gründlich nass. Meine wasserdichten und spezialimprägnierten Lederschuhe hielten dem Wetter etwa dreißig Minuten lang stand, bevor sie sich, wie einst die Titanic, langsam mit Wasser füllten und baden gingen. Barbaras garantiert wasserdichte Goretex-Schuhe (»damit können Sie durch Bäche waten, und die Füße bleiben trocken«, hatte der Verkäufer gelogen) erlitten dasselbe Schicksal, allerdings erst zweieinhalb Minuten später, und auch unsere »klimaorganisierten« Spezialsocken erlebten ihren totalen Klimazusammenbruch. Die Goretex-Jacken ließen dafür das Wasser nur dort hineinrinnen, wo es eben hineinrinnt, also in die Ärmel sowie in den Kragen und, bei besonders widerlichen Windstößen, auch von unten. Es war ein Fiasko. Gestern, bei sechs Grad und sturmartigen Windböen, hatte ich gesagt, das Wetter könne nicht mehr schlimmer werden. Als ich mich heute zu Barbara umgedreht habe, genauer gesagt zu dem, was von ihr übriggeblieben war, nämlich einer tropfenden, blauen, etwas gebeugt und verzagt wirkenden Pelerine, um ihr zu sagen, dass das Wetter jetzt wirklich nicht mehr schlimmer werden könne, ist diese Pelerine zusammengezuckt. Sie erwartet jetzt für morgen ein Hagelgewitter. Schon so früh auf unserem Weg nach Santiago durften wir also die nächste Lektion lernen: Bei sintflutartigen Regenfällen geht man besser gar nicht erst los, weil man sich in den nassen Schuhen die Füße ruiniert und weil
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