Lesereise - Jakobsweg
überhaupt die Moral sinkt, zumal man später im Rucksack nur noch nasses Gewand vorfindet, weil der garantiert wasserdichte Rucksackschutz erstens nicht wasserdicht ist und es zweitens auch nur sein könnte, wenn er über den vollgepackten Rucksack drüberpasste. Die Landschaft? Bestand heute links und rechts aus blauem, tropfendem Goretex; sehr schön der Ausblick auf die Wanderschuhe, den Asphalt und gelegentliche Wiesenstreifen, vor allem in Verbindung mit der Geräuschkulisse (quitsch-quatsch-quitsch-quatsch, sehr rhythmisch!). Natürlich haben wir versucht, mittels herausgehaltenem Daumen die vier Autos zu stoppen, die an uns vorbeigebraust sind. Aber natürlich nehmen die Autofahrer einen gerade dann nicht mit, wenn man es am dringendsten brauchen würde. Die prinzipielle Freundlichkeit gegen Pilger endet da, wo sie einem die prächtigen Velourssitze des wunderbaren Renault nass machen könnten.
Jetzt sitzen wir im Café, das nebst Hotel und Restaurant zum gîte d’étape in Saint-Alban-sur-Limagnole gehört. Unsere ganz nassen Sachen hängen unten im Heizkeller, und unsere nicht ganz so nassen Sachen haben wir an. Seit wir im Café sitzen, schaut auch die Sonne zwischen den Wolken hervor. Weitergehen wollen wir heute aber nicht mehr. Natürlich, wenn wir bei diesem Tempo bleiben, brauchen wir etwa ein halbes Jahr bis nach Santiago, dabei wollten wir Weihnachten eigentlich gerne zu Hause verbringen … Aber wir können uns einfach nicht überwinden, in das tropfende Wanderzeug zu steigen. Stattdessen kaufen wir uns die üppigen Samstagsausgaben der französischen Zeitungen, trinken Tee und beobachten die anderen Gäste des Cafés, die überwiegend aus der großen Nervenheilanstalt des Ortes stammen. Diese wiederum beobachten uns, und es würde mich nicht wundern, wenn sie uns auch für nicht ganz normal hielten.
Hier in Saint-Alban haben wir drei andere Pilger kennengelernt: eine Schweizerin und zwei Herren aus Lyon. Die Schweizerin nimmt gerade ihren Aperitif auf der Terrasse. Es hat zwar acht Grad, und es ist schon finster, aber das scheint sie nicht zu stören. Henri ist ein gerade in Pension gegangener Schuldirektor, Vélimir ein gerade in Pension gegangener Techniker. Er stammt übrigens aus Dubrovnik und spricht ein sehr charmantes Französisch. Vélimir schläft wie wir in dem großen Schlafsaal auf dem Dachboden. Henri hat sich ein Zimmer genommen, weil er verkühlt ist und eine Heizung haben will.
Aumont-Aubrac, 27. September
Ich weiß, warum Henri sich ein Zimmer genommen hat. Nicht, weil er verkühlt ist, nein, sondern weil er einmal schlafen wollte! Vélimir hat durch unaufhörliches, unvorstellbar lautes Schnarchen zahlreiche meiner Nervenstränge durchgesägt, weshalb wir uns heute ein Hotelzimmer genommen haben.
Während es draußen regnet, sitzen wir auf unserem Bett, essen ein Käsebrot und beobachten, wie die Fenster anlaufen und wie sich gleichzeitig die Tapete langsam von den Wänden schält. In der »Hotelbar« konnten wir nämlich nur kurz bleiben, weil sie der Familie auch als Wohnzimmer dient und wir der Mutter nicht ständig zuhören wollten, wie sie ihre Kinder wegen der nicht gemachten Hausaufgaben drangsaliert.
Zu dem Hotel hier gehört übrigens auch der gîte d’étape, aber er schien uns schrecklich kalt und trostlos. Außerdem kostet das Zimmer nur unwesentlich mehr (in Frankreich gelten die Preise immer pro Zimmer, nicht pro Person!). In dem gîte d’étape haben sich die Kanadier, die wir in Le Puy kennengelernt hatten, eingenistet.
Irma, die Schweizerin, hat uns untertags überholt. Sie geht mit über 6 km/h. Henri und Vélimir haben sie »Irma la Terrible« genannt, »Irma die Schreckliche«. Unsere morgige Tagesetappe ist ihr heutiger Nachmittagsspaziergang. Irma ist Restaurantbesitzerin und via Handy immer erreichbar. Sie ist in Zürich gestartet und will gar nicht nach Santiago gehen. Sie hat vor, in Burgos Richtung Süden abzubiegen und bis Malaga zu wandern. »Warum?« – »Ich muss einfach gehen«, sagt sie, und auf Schweizerdeutsch klingt das fast wie eine Drohung.
Heute hat es nur einmal wirklich stark geregnet, nämlich als wir uns zur Mittagsjause setzen wollten. Wir haben unser Brot dann im Gehen gegessen. Aber ich möchte nicht undankbar sein: Das Hagelgewitter hat erst kurz nach unserer Ankunft hier begonnen.
Montgros, 28. September
Auf dieser Hochebene, Aubrac genannt, fühlt man sich so richtig als Pilger: eine sehr herbe Landschaft, viel Wind,
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