Lesereise Kanarische Inseln
Familie schaut zu, wie ich in einen Bajazzo verwandelt werde. María selbst trägt ein Kostüm aus giftgrünem und orangem Satin, ihr hüftlanger Haarschopf ist aus flammend roten Wollfäden. Auf dem Kopf hat sie einen spitzen Hut, über der Augenpartie eine Maske. Ihr grell orange gemalter Mund reicht von einem Ohr zum anderen.
Wir schleichen oberhalb der Häuser an der Bergflanke entlang. Niemand darf uns sehen, niemand wissen, wer wir sind. María zischt es mir auf dem Weg noch mehrmals zu. Kein Wort spricht sie an diesem Abend. Dafür schlägt sie den jungen Burschen, die sich vorzugsweise als Carmen oder schwarze Witwe verkleiden, auf den Hintern oder grapscht nach ihren ausgestopften Brüsten. Auf dem Sportplatz findet der große Kostümball der Dorfbewohner statt.
Aber María will zum Tanz ins Hotel, wo eine richtige Kapelle spielt. Ein paar andere Einheimische sind ebenfalls dort. Deshalb bleibt María wortlos, verteidigt ihre Perücke und ihre Maske mit stummer Brachialgewalt gegen räuberische Übergriffe. Neben solchen Scharmützeln tanzen wir Samba um den Pool. Die Touristen freuen sich, dass sie erleben dürfen, wie die Canarios ihren carnaval feiern. Manchmal schnappen wir uns ein gerade serviertes Sektglas von einem der Tische. Die Leute lachen und lassen uns gewähren. Sie denken, das sei wohl im carnaval so üblich.
Erst auf dem Heimweg fängt María wieder zu reden an. Vielleicht sollte sie neben der Pension
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noch ein Eiscafé oder eine Kneipe aufmachen. Juán muss eben einfach anbauen. Wofür hat er seinen Werkzeugkasten? Ich lege die Finger auf die Lippen, als uns jemand entgegen kommt, und Marías wortreiche Zukunftsfantasien ersterben. Einen Augenblick überlege ich, ob ich mich das nächste Mal nicht besser bei Lucrecia einmieten soll. »Morgen feiern wir in San Nicolás weiter«, entscheidet María, als wir noch einen Brandy trinken. Es ist niemand mehr auf der Terrasse. Im unteren Bad ist erneut der Spülkasten defekt. Es klingt wie ein entfernter Wasserfall.
»Eigentlich ist Juán ein Hippie, lebt einfach in den Tag hinein«, meint María, bevor sie austrinkt. Ich bleibe noch eine Weile und sehe nach der funkelnden Milchstraße. Dann gehe ich mich abschminken.
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Don Atún in tiefer Trauer
Aber gefeiert wird beinahe wie in Rio. Der kanarische Karneval
Die Szene könnte von Surrealisten erdacht sein: Grell geschminkte schwarze Witwen in Netzstrümpfen stoßen markerschütternde Klageschreie aus. Heulen und Zähneklappern allenthalben. Dann geht ein überdimensionaler Papierfisch in Flammen auf. Das Drahtgestell, über das seine Haut gespannt war, ist mit Feuerwerkskörpern gespickt. Jetzt haucht das maritime Monster mit einem ohrenbetäubenden Stakkato von Chinaböllern, Krachern und Raketen sein Leben aus.
Die »Beerdigung der Sardine« gilt als Höhepunkt des carnaval . Sie fällt zumeist auf den Aschermittwoch, ist aber beileibe nicht der endgültige Abschluss des närrischen Treibens. Täuschend echt erscheinen großformatige Todesanzeigen: »Doña Sardina, die Schuppigste der Schuppigen, ist von uns gegangen, nachdem sie Neptun Rechenschaft über all ihre ozeanischen Orgien abgelegt hat. Sie Ruhe in Frieden. In tiefer Trauer: Doña Makrele und Don Thunfisch in Öl …«
Die im Schmerz wogenden Busen der Klageweiber sind fast durchweg unecht. Die meisten »Witwen« sind nämlich junge Burschen, die in femininer Verkleidung mit Stöckelschuhen in Übergröße
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einherschlingern. Die Stilettos müssen eingelaufen sein, gilt es doch auch, darin den »Männliche Marathon auf hochhackige Schuhe« – wie die deutsche Übersetzung des Festprogramms sich ausdrückt – über das bucklige Kopfsteinpflaster der Altstadt von Puerto de la Cruz zu bewältigen. Zwei Wochen dauert el carnaval auf Teneriffa mindestens, von der Wahl der Kinderkönigin bis zu den Umzügen in den beiden Inselgroßstädten und diversen Sardinen-Bestattungen. Noch Tage danach finden Spektakel in kleineren Orten statt.
Vom spanischen Festland aus wurde der Karneval Anfang des 19. Jahrhunderts auf die Kanarischen Inseln exportiert, wo das örtliche Bürgertum ihn gerne als Abwechslung im eher eintönigen Gesellschaftsleben annahm. Man schreckte auch vor derben Späßen nicht zurück. Marodierende Frauenbanden versuchten, den Caballeros glühende Scheite unter den Mantel zu schieben. Aus Galicien wurde der Brauch übernommen, sich über und über mit Mehl oder Puder zu bestäuben, bis selbst das
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