Lesereise Kanarische Inseln
Straßenpflaster zur kaum noch passierbaren, glitschigen Piste wird. Heutzutage ist allerdings nur noch auf der Insel La Palma der Babypuder zur Karnevalszeit restlos ausverkauft.
Aus der Neuen Welt, sprich den spanischen Kolonien, brachten reich gewordene Rückkehrer andere Bräuche auf die Insel. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden in den Hafenstädten bereits große Umzüge mit geschmückten Wagen statt.
Franco ließ den Karneval in ganz Spanien verbieten. Diktatoren schätzen weder Camouflage
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noch Ausschweifung. Nur auf den isoliert gelegenen Kanaren gingen unter dem neuen Namen fiestas de invierno die »Winterfeste« weiter. Mit der Demokratisierung und den zunehmenden Einnahmen aus dem Tourismus lebte nach Francos Tod der Karneval auf den Kanaren wieder auf. Immer prunkvoller und teurer wurden die Umzüge und Dekorationen, immer ausgefallener die Kostüme der Königinnen, deren Glanz kein männliches Pendant duldet. Kein Lokalpolitiker kann heute el carnaval ignorieren. Wer das närrische Treiben in welcher Höhe gefördert und gesponsert hat, wer seinem Heimatdorf zu spektakulären Inszenierungen verhalf – daran misst das Volk nicht zuletzt seine Kandidaten. Beinahe wie in Rio. Sambaschulen gibt es längst auch auf den Kanaren. Kein Wunder, rühmt sich doch Teneriffa, den zweitgrößten Karneval der Welt nach Rio de Janeiro auszurichten. Viele Einheimische geben ein Vermögen für die Verkleidung aus. Die Kostüme der Königinnen können bis zu sechzig Kilo wiegen und werden von versteckten Gestellen gestützt. Meterhoch wogt zuweilen der schwere Kopfputz. Wehe, wenn er sich in Lichterketten verfängt oder wenn, wie vor Jahren, eine quicklebendige Maus durch die Unterröcke der Königin turnt. Als ob ihre närrische Hoheit nicht schon genug Strapazen auszuhalten hätte …
Längst ist der Karneval zu einem Wirtschaftsfaktor geworden, und das nicht nur für die Hersteller von Theaterschminke, Tüll und Pailletten. Der Touristikbranche ist es recht, denn Zehntausende kommen alljährlich, um hier Fasching ohne Frost
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zu feiern. Funkenmariechen und Fastnachtsprinz treffen auf exotische Archetypen. Antillenschönheiten sind mit Schminke auf Schokobraun getrimmt. Elegante Paare im Stil der Belle Epoque, die Herren im weißen Tropenanzug, die Damen mit Sonnenschirmchen, stehen für die »Indianos«, die einst schwerreich aus den Kolonien zurückkehrten. Klassiker wie Vampire, Harlekine und Bajazzos sind ohnehin Legion. Die Travestie steht vor allem bei der Männerwelt hoch im Kurs. Natürlich fließt der Alkohol in Strömen. Aber vor allem wird getanzt, und das bis zur totalen Erschöpfung. Beinahe wie in Rio.
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Die schöne Verwüstung
Fuerteventura ist eine Insel, die man entweder liebt oder hasst. Es gibt nichts dazwischen. Plädoyer für eine Zuneigung
Wie ein betrunkener Seemann torkelt die »Celia Cruz« durch die poolblauen Wellen. Die Meerenge zwischen Lanzarote und Fuerteventura ist für ihre gewaltige Dünung bekannt. Als Matrose an Bord des Ausflugsschiffs fährt ausgerechnet ein Schweizer mit. Bruno Geisenhof lebt seit siebzehn Jahren auf Fuerteventura und er erinnert sich noch gut an seinen ersten Eindruck von der Insel. »Als ich die Landschaft vom Fenster des Flugzeugs aus sah, dachte ich nur: Mein Gott, wo bin ich da gelandet. Hier gibt es ja keinerlei Grün.« Die Fahrt vom Flughafen in die Hauptstadt Puerto del Rosario machte die Sache nicht besser: »Es war einfach alles hässlich. Die staubige Erde, die Häuser, die schmuddeligen Ränder der Stadt.«
Als Geisenhof in Puerto del Rosario ankam, hatte die Stadt eine der höchsten Kriminalitätsraten der Welt. Drogen und Prostitution waren an jeder Straßenecke zu finden. Verantwortlich dafür waren Tausende von Fremdenlegionären, die hierher verlegt worden waren, nachdem Spanien die Westsahara geräumt hatte. Bevor sie 1996 zur Erleichterung der Bevölkerung endgültig abgezogen wurden, herrschten
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die Legionäre gut zehn Jahre lang nach Landsknechtsart im »Hafen des Rosenkranzes«, wie die Inselhauptstadt sich seit 1956 nennt.
Zuvor hieß sie Puerto de Cabras. In diesem »Ziegenhafen« landete am 10. März 1924 der vom Diktator Primo de Rivera in die kanarische Wüste verbannte Universitätsprofessor und Schriftsteller Miguel de Unamuno. Da er zur Prominenz der spanischen Intellektuellen zählte, wurde Unamuno standesgemäß in der damals einzigen Herberge der Insel untergebracht, dem Hotel Fuerteventura, wo er eine
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