Lesereise New York
skandieren Parolen wie »Wir sind die neunundneunzig Prozent« und »Wessen Straßen? Unsere Straßen!«.
Etwa hundert Meter von Minas’ Laden entfernt kommt die Meute an einer jener panzersicheren Polizeibarrikaden zum Stehen, die nach 2001 hier aufgestellt wurden. Näher lässt die Polizei die Demonstranten nicht an die Börse heran, obwohl es Sonntag ist und das Parkett noch leerer als ohnehin schon seit der Computerisierung des Aktienhandels. Wie eine in die Enge getriebene Schafherde drängen sie sich nun gegen die Gitter und Boller und blöken ihre Schlachtgesänge an die opaken Fassaden der Bürogebäude.
Es ist der 17. September 2011, der erste Tag von »Occupy Wall Street«. In dieser Nacht werden die Demonstranten erstmals im Zuccotti Park, keinen halben Kilometer von der Wall Street und vom Ground Zero entfernt, campieren.
Der trostlose Park ist ein Asphaltrechteck vor einem Bürohochhaus am sogenannten Liberty Square. Der Bauherr des Gebäudes, LMDC -Vorstand John Zuccotti, hatte ihn einrichten müssen, um die Genehmigung für ein paar Stockwerke mehr an Bürofläche zu erhalten. Es war ein Feigenblatt der Bürgergesinnung, ein Lippenbekenntnis zu öffentlichem Raum und dessen demokratischer Nutzung.
Zwei Monate lassen Zuccotti und die New Yorker Polizei »Occupy« gewähren, bevor sie in einer Nacht- und Nebelaktion den Park so räumen, wie sie einst den Tompkins Square Park geräumt hatten. Zwei Monate, in denen das kleine Rechteck einen bunten und lebendigen Kontrast zur hermetisch abgeriegelten Baustelle des Ground Zero ein paar Meter weiter bildete, auf der sich das Kapital im unteren Manhattan ein neues Denkmal setzt.
An einem verhangenen, melancholischen Nachmittag jenes Herbstes von »Occupy« sitze ich in der Küche von Abe Frajndlichs Loft. Frajndlich zeigt mir den ersten Andruck seines neuen Bildbands, der dem Leben und Sterben der Zwillingstürme gewidmet ist. Es sind sehr persönliche Bilder vom Leben im Schatten der Türme, vom Schock des Anschlags, dem Trauma der Bewohner des Viertels und den Versuchen, irgendwie mit dem Erlebten zurechtzukommen. Die letzte Aufnahme ist ein Luftbild vom unteren Manhattan in Schwarz-Weiß aus dem Jahr 2009. Vom neuen World Trade Center ist darauf noch nichts zu sehen.
Das Buch ist für Frajndlich auch ein Abschiedsgeschenk an das Viertel, mit dem ihn eine lange und komplizierte Zeit verbindet. Er will wegziehen aus Manhattan, weg aus New York, irgendwohin aufs Land, wo das Leben bequem und billig ist und er in Ruhe arbeiten kann. »Dieses New York ist nicht mehr mein New York. Es ist mir fremd geworden.«
Abe hat seinen Sohn hier in Lower Manhattan großgezogen. Und er hat seine Frau hier verloren. Sie ist vor wenigen Jahren an Krebs gestorben. Sie selbst hat geglaubt, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrem Krebs und dem Giftstaub gab, der sich nach dem 11. September in jede Ritze der Wohnung gelegt hat. Auf einem der Bilder in Abes Buch ist der weiße Film auf seiner Fensterbank zu sehen.
Es wäre leicht für Abe, dem 11. September die Schuld am Tod seiner Frau zu geben. Doch Abe braucht keinen Schuldigen: »Es kann sein, es kann aber auch sein, dass das nichts miteinander zu tun hatte«, sagt er. »Wir werden es nie wissen. Und es macht auch keinen Unterschied.« Abe Frajndlich ist nicht zornig. Er hat einfach nur genug.
Bye Bye Chelsea
Der erbitterte Kampf um die letzte Oase der New Yorker Boheme
Auf den ersten Blick ist alles so wie immer im Chelsea Hotel.
Rund um die Lobby hängen die eklektischen Kunstwerke der Hotelbewohner, die zumeist mehr von der Ambition als vom Talent ihrer Schaffer künden und die alle etwas Beängstigendes haben. Von der Decke baumelt wie vermutlich seit Jahrzehnten die Pink Lady , ein dickes Pappmaschee-Mädchen in einem rosa Tutu, das auf einer Schaukel hockt und nur darauf wartet, einen Schubs in Richtung 23rd Street zu bekommen. Auf dem Sims über dem kalten Kamin steht eine Büste des langjährigen Hotelmanagers Stanley Bard.
Nur die Menschen fehlen. Die Ledersitzgruppe in der Ecke, in der immer ein paar der Langzeitmieter des Hotels gehockt sind, um zu debattieren, die Zeitung zu lesen oder mit Touristen zu flirten, ist verwaist. Die Rezeption, ein Holzverhau mit Schlüssel- und Postfächern wie aus einem alten Pariser Apartmenthaus, ist zum ersten Mal seit wahrscheinlich mehr als hundert Jahren nicht besetzt. Stattdessen stehen zwei fleischige Aufpasser in schlecht geschneiderten Anzügen breitbeinig im
Weitere Kostenlose Bücher