Lesereise New York
World Trade Center wurde die Port Authority of New York and New Jersey beauftragt. Die Behörde, die den beiden Staaten New York und New Jersey untersteht, betrieb bis dahin die Häfen und Flughäfen der Region. Jetzt sollte sie die Reste des New Yorker Hafens vollends nach New Jersey verlegen und an seine Stelle das Herz der zukünftigen Wirtschaft der Stadt setzen.
Die Rockefellers wollten Manhattan in ein neues goldenes Zeitalter führen. Doch stattdessen geriet das, was in den folgenden knapp dreißig Jahren in Lower Manhattan passierte, zu einer idealtypischen Fallstudie für die Begrenzungen groß angelegter Stadtplanung von oben. Der Superblock des World Trade Center, ein trotziges und kühles Symbol der Macht, blieb eine Insel in der Stadt. Das Center unterbrach jäh die Straßenmatrix von New York und das pulsierende Leben, das sie stets hervorgebracht hatte. Die Kleinbetriebe, die sich rundherum ansiedelten, machten ebenso wie das World Trade Center wieder zu, nachdem die Pendlerzüge abends in die Vororte abgefahren waren. Bis auf ein paar Stripclubs und Bars war der Stadtteil nachts tot. »Das untere Manhattan war als Ursprung der Stadt und als Hafenviertel berühmt und historisch«, schrieb der Architekturkritiker des New Yorker , Paul Goldberger. »Aber es war zugleich unglaublich langweilig. Es gab nichts, das irgendjemanden, der nicht hier arbeiten musste, dorthin gelockt hätte.«
Das alles hätte nach 2001 Grund sein müssen, es beim zweiten Mal besser zu machen. Ebenso die Tatsache, dass es beinahe zwanzig Jahre gedauert hatte, bis der ganze Büroraum des World Trade Center vermietet war. Rockefeller hatte den Bedarf der Finanzwirtschaft nach einem zentralen Welthauptquartier direkt an der Wall Street massiv überschätzt. Schon in den achtziger Jahren begann man lieber dezentral zu arbeiten. Mehr und mehr Finanzfirmen wanderten nach Connecticut und New Jersey ab. Damit überhaupt Einnahmen hereinkamen, mieteten sich anfangs in das neue World Trade Center die Bauherren selbst, die Port Authority und Behörden des Staates New York ein. Sonst wäre das World Trade Center leer geblieben.
Doch trotz dieser Pleite wiederholte sich die Geschichte nach 2001 praktisch eins zu eins. Die Stimmen, die eine intelligentere Nutzung des Ground-Zero-Geländes forderten, wurden rasch erstickt. Silverstein fand von Anfang an in Gouverneur George Pataki einen mächtigen Mitstreiter. Der Gouverneur glaubte, ein rascher Wiederaufbau des World Trade Center würde seinen Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur zugutekommen. Um die Angelegenheit zu beschleunigen, gründete er bereits im November 2011 die Lower Manhattan Development Corporation ( LMDC ) – eine Organisation ganz nach dem Vorbild von Rockefellers D-LMA . An deren Spitze standen Größen aus der Finanzbranche wie der ehemalige Goldman-Sachs-Chef John Whitehead oder der Immobilienunternehmer John Zuccotti, der wie Silverstein im unteren Manhattan reichlich profitable Büroflächen verloren hatte. Gegen so viel geballte Macht aus Politik und Kapital hatte auch Bürgermeister Bloomberg keine Chance. Dem Wiederaufbau von Millionen von Quadratmetern Bürofläche stand nichts mehr im Weg.
Doch es kam, wie es kommen musste. Wie Bloomberg und die Stadtplaner von R.Dot prophezeit hatten, bestand auf dem Markt auch nicht im Entferntesten genug Bedarf für so viele Büros. Nachdem er schon nicht annähernd so viel Versicherungsgelder eingetrieben hatte wie erhofft, sah sich Silverstein vor einem massiven Finanzierungsproblem. So musste die Port Authority Silverstein in langen Verhandlungen das Baurecht für den größten Turm, den One World Trade Center wieder abluchsen, damit überhaupt etwas passiert. Der Bau zweier weiterer Türme ist für unbestimmte Zeit storniert. Dennoch wird das gesamte Projekt mit 3,3 Milliarden Dollar an Steuergeldern subventioniert.
Eine Woche nach dem zehnten Jahrestag des 11. September wird Minas Polychronakis durch lautes Geschrei auf der Wall Street von dem Schemel hinter der Theke seines Ladens aufgeschreckt. Minas schleppt sich schwerfällig zur Tür, um zu sehen, was da los ist. Der Anblick, der sich ihm bietet, verwirrt ihn, so etwas hat es hier im Finanzbezirk in den ganzen vierzig Jahren, in denen er hier arbeitet, noch nie gegeben.
Rund drei Dutzend Jugendliche und Studenten, eskortiert von Polizeimotorrollern, marschieren die Straße hinunter in Richtung Börse. Sie haben zottelige Haare und zerlumpte Jeans und sie
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