Lesereise New York
Raum und mustern jeden argwöhnisch, der ein- und ausgeht.
Es ist August 2011 und vor zwei Tagen ist hier das Unvermeidliche passiert, das, was die Bewohner des Chelsea schon seit Langem haben kommen sehen, wovon sie aber dennoch immer hofften, dass es niemals eintreten würde. Das Chelsea wurde verkauft, und der neue Besitzer machte vom ersten Tag an klar, dass ab sofort hier alles anders wird. Die Tage des Chelsea als dem berühmtesten Künstlerhotel von New York, als Ort, wo man seine Miete mit Gemälden oder Gedichten bezahlen konnte, sind gezählt.
Gerade als die Aufpasser dazu anheben, uns zu fragen, was wir hier zu suchen haben, kommt Arthur Nash, Bewohner der Nummer 207, aus dem klapprigen alten Fahrstuhl und lotst uns ins Haus. Der Kunsthändler, Gelegenheitsschriftsteller, Mafia-Forscher und Kuriositätensammler ist seit Jahren einer der aktivsten Mieter im Kampf gegen die Sanierung des Chelsea und dessen Umwandlung in eine austauschbare New Yorker Luxusabsteige. Der plötzliche Verkauf hat ihm einen Schock versetzt, mit dem er jetzt, zwei Tage später, noch immer spürbar ringt.
»Ich war wie jeden Vormittag in meiner Galerie in SoHo«, erinnert er sich an den verhängnisvollen Tag, »als ich einen Anruf von einem Mitbewohner bekam, ich solle doch ganz schnell zurück ins Hotel kommen.« Nash sprang in ein Taxi und als er an der 23rd Street ausstieg, hatte sich schon eine Meute von Kamerateams um den Hoteleingang geschart.
Auf dem Bordstein, so erzählt er, standen Hotelbewohner in Pantoffeln und verwirrte Kurzzeitgäste mit ihren Rollkoffern und diskutierten aufgeregt mit Reportern, was sich an diesem Vormittag im Hotel abgespielt hatte. Die Zimmermädchen, Rezeptionisten und Portiers waren ohne Vorwarnung ausgesperrt worden. Touristen mit Reservierungen wurden an andere Etablissements in der Gegend verwiesen, Gäste, die bereits mehrere Nächte im Hotel verbracht hatten, wurden gebeten, sich eine neue Bleibe zu suchen.
Seitdem ist das Chelsea ein Gespensterhaus. Unsere Fußtritte hallen durch die mit Mosaik-Klinkern ausgelegten Gänge, während Arthur uns durch das Gebäude führt, das wirkt, als wären seine Bewohner während eines Luftschutzalarms geflüchtet. Verwaiste Handkarren der Putzfrauen stehen verloren auf den Etagen. Die Zimmer, in denen bislang Touristen untergebracht waren, sind mit Vorhängeschlössern versiegelt, die alten Holztüren mit einer dünnen Schicht weißer Farbe übertüncht. »Da hat Bob Dylan gewohnt, als er die ›Sad Eyed Lady of the Lowlands‹ geschrieben hat«, zeigt Arthur auf die weiße Tür mit der Nummer 205. »Und da hinten, das war die Wohnung von Patti Smith.« Aus seiner Stimme klingt eine Mischung aus Bitterkeit und Trauer.
Nur noch die etwa hundert Dauermieter sind jetzt übrig, die wird der neue Besitzer nicht so schnell los wie die Touristen. Schon gar nicht einen wie Arthur, ein stattlicher, einen Meter achtzig großer Mann, dessen Arme furchterregend über und über mit Tattoos bedeckt sind. Arthurs Zimmer ist direkt neben der ehemaligen Dylan-Wohnung, es ist gerade groß genug für ein Bett und ein paar Sessel. In der Ecke stehen ein kleines Waschbecken, ein Elektrokocher und eine Mikrowelle. Der Holzboden ist durchgetreten, an der Wand hängt ein zwei Meter breiter Fotodruck, eine Aufnahme von Jack Nicholson und Stanley Kubrik bei den Dreharbeiten zum Hotel-Grusler »The Shining«. Der Legende nach soll hier der Dichter Dylan Thomas ins Koma gefallen sein, nachdem er in der White Horse Tavern im Greenwich Village achtzehn Whiskey gesoffen hatte.
Arthur gehört zu denjenigen Mietern, für die das Wohnen im Chelsea ein Statement ist. Er ist nicht wie viele andere vor ihm hier angespült worden, er gehört nicht zu dem Strandgut New Yorks, zu denen, die nirgends anders hingehören und die über so viele Jahrzehnte lang im Chelsea ihr Obdach gefunden haben; die von zu Hause davongelaufenen sechzehnjährigen Punks etwa, die mittellosen japanischen Künstler, die alternden Transvestiten und die heroinabhängigen Rockstars wie Deedee Ramone und natürlich auch Sid Vicious, der in der Nummer 100 im Rausch seine Freundin Nancy Spungen abgestochen hat.
Nein, Arthur wollte in das Chelsea, weil es das Chelsea ist, er wollte Teil des Mythos sein. Ein Chelsea-Künstler zu werden war für ihn ein Lebenstraum, und dass er nun seit Jahren im Zimmer von Dylan Thomas wohnt, ist dessen Erfüllung. Jahrelang hat er Chelsea-Bewohnern wie dem Schriftsteller Malcolm
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