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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Noll
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Brenner und der New Yorker Nightlife-Ikone Arthur Weinstein nachgestellt, bis sie ihm ein Entree verschafften.
    Arthur hat wie kaum ein anderer in den vergangenen Jahren für das Überleben des Chelsea gekämpft, weil es für ihn ein Symbol ist. Ein Symbol für eine Epoche, für eine Weltanschauung: »Es geht doch hier nicht nur um das Chelsea«, sagt er. »Es geht darum, was aus ganz New York geworden ist. Es geht darum, die letzten Inseln in dieser Stadt zu bewahren, die noch nicht von der alles fressenden Marktwirtschaft vereinnahmt worden sind.«
    Das Chelsea Hotel ist ein Dinosaurier, ein einsamer Überlebender aus einer anderen Zeit. In den sechziger und siebziger Jahren, als die Stadt heruntergekommen und anarchisch war und einen Nährboden für alle möglichen alternativen und experimentellen Lebensformen bot, war das Chelsea eine Metapher für die Stadt. Heute ist es ein Fremdkörper in einer Metropole, die von der Wall Street regiert wird, in der sich alles nur noch um Luxus und Konsum dreht und in der für die Nicht-Arrivierten, für die Träumer und die Außenseiter kein Platz mehr ist.
    Dass das Chelsea ein Asyl für alles und jeden war, der weird , der anders, ist, war die Vision eines einzigen Mannes: Stanley Bard. Bard war einer der Erben des Hotels, das 1883 als elegantes Apartmenthaus für Opernsänger und Broadway-Schauspieler gebaut worden war, und übernahm die Leitung 1957. Seitdem war das einzige Kriterium dafür, im Chelsea unterzukommen, ob Stanley Bard dich mochte.
    Und Bard mochte alles, was abseitig ist. So nahm er 1972 schon den Transvestiten Storme DeLarverie auf, einen Tänzer aus New Orleans. Storme – der wie »Stormy«, also »stürmisch«, ausgesprochen wird – hatte 1969 die Stonewall Riots ausgelöst, den Aufstand der Homosexuellen, der heute als Gründungsmoment der amerikanischen Schwulenbewegung gilt. Storme ließ sich die Polizeischikanen in den Schwulenkneipen im Greenwich Village nicht mehr gefallen und schlug einen Polizisten nieder. Es war der Beginn einer dreitägigen Straßenschlacht. Alleine diese Tat genügte Stanley Bard, um Storme ein Zimmer zu geben.
    Oder beispielsweise Herbert Huncke, das Maskottchen der Beat-Clique um Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs. Huncke war Ende der dreißiger Jahre nach New York gekommen. Er war damals schon heroinabhängig und finanzierte sich seine Sucht als männliche Prostituierte am Times Square. Zugleich war er jedoch ein Liebling der New Yorker Künstlerszene – neben den Beats gehörten die Jazzlegenden Charlie Parker und Dexter Gordon zu seinen besten Freunden. Einmal wurde er zusammen mit Dexter Gordon verhaftet, während die beiden ein Auto aufbrachen. Nach vielen Jahren des Driftens fand er im Chelsea Unterschlupf. Zuletzt bezahlten die Grateful Dead seine Miete, bevor er 1997 starb.
    Natürlich hatte Bard jederzeit auch ein Zimmer für Künstler, die nach einem Refugium suchten, ob für ein paar Wochen, ein paar Monate oder ein paar Jahre. Arthur Miller stieg nach seiner Trennung von Marilyn hier ab und schrieb im Chelsea einige seiner berühmtesten Stücke. Andy Warhol lebte in den sechziger Jahren hier und drehte seinen ersten erfolgreichen Film »Chelsea Girls«. Madonna war in den achtziger Jahren hier, bevor sie zum Material Girl wurde und kam zurück, um ihr Buch »Sex« zu fotografieren. Julian Schnabel, Robert Mapplethorpe, Regisseur Abel Ferrara, Joni Mitchell und Songwriter Ryan Adams haben im Chelsea gelebt.
    Das Geschäftsmodell von Bard war ebenso eigenwillig wie sein Auswahlverfahren für Mieter. Hohe Instandhaltungskosten hatte er nicht, das Chelsea wurde praktisch nie gründlich renoviert. Die Kurzzeitgäste, die wegen des Flairs ins Chelsea kamen, sorgten für einen regelmäßigen Strom an Einnahmen. Die Mieter hingegen zahlten, was sie konnten oder was sie wollten. Mietverträge gab es nicht.
    So entstand ein einmaliges Gebilde an der 23rd Street, eine Mischung aus utopischer Kommune, Drogenhöhle und Kultstätte. Es war ein Ort, an dem ein anderes Zeitmaß galt, an dem die Tage an einem vorbeidrifteten und der Geist frei umherschweben konnte. »Oh won’t you stay/ We’ll put on the day/ And we’ll talk in present tenses«, singt Joni Mitchell in »Chelsea Morning«, das sie 1969 im Hotel geschrieben hat.
    Bis Mitte der neunziger Jahre war das Hotel in seiner ganzen heruntergekommenen Verrücktheit ein organischer Bestandteil seiner Umgebung. Der Stadtteil Chelsea war ein ebenso

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