Lesereise New York
postapokalyptisches Sozialexperiment wie der einst prachtvolle zehnstöckige rote Klinkerbau, der mit seinen Zinnen und Türmchen wie ein Schloss über der 23rd Street thront. Im benachbarten Meatpacking District war zwischen den Großschlachtereien der Straßenstrich der Transvestiten, rund um das Chelsea wimmelte es von Leder und S-und-M-Bars. Die Homo-Subkultur nistete sich gerade ein, die Gentrifizierung hatte noch lange nicht begonnen.
Doch dann erging es Chelsea wie vorher schon den Boheme-Vierteln East Village und SoHo. Die Kunstgalerien kamen, dann die schicken Restaurants und Cafés. In den Meatpacking District zogen Edelboutiquen und Nachtclubs ein, vor denen sich freitagnachts überschminkte junge Frauen an die aufgespannten Samtseile drängeln und versuchen, an den Türstehern vorbeizukommen. Für jede Folge von »Sex and the City« wurde mindestens eine Szene hier gedreht. Die Mieten schossen wie überall in Manhattan in obszöne Preisregionen. Das Chelsea war plötzlich eine potenzielle Goldgrube. Der Druck auf Stanley Bard wuchs immer mehr, aus dem Hotel mehr Profit zu schlagen, so lange, bis sich 2007 die anderen Anteilseigner gegen ihn verbündeten und ihn von seinen Managementfunktionen enthoben.
Stanley Bard hat sich nie von dem Schock erholt. Er ist seitdem schwer krank und völlig zurückgezogen. Seinen Fuß über die Schwelle des Hotels zu setzen, bringt er nicht mehr über das Herz.
Arthur Nash war einer der Ersten, der gegen die Entlassung von Stanley Bard auf die Barrikaden ging. Schon Tage nachdem Bard von seinen Mitbesitzern aus dem Hotel ausgesperrt worden war, hängte Nash ein riesiges Laken vor seinen Balkon, auf das er in bunten Lettern »Bring back Bard« gesprüht hatte. Und als das neue Management anfing, die alte Dylan-Wohnung neben ihm zu demolieren, um sie in eine Luxussuite zu verwandeln, reichte er Klage beim Wohnungsamt wegen Ruhestörung ein.
Zusammen mit einer Handvoll anderer Mieter fuhr Arthur fortan eine konsequente Obstruktionspolitik. Sie machten praktisch jeden größeren Renovierungsversuch unmöglich. Sie nahmen sich Rechtsanwälte und erstritten sich Verträge mit Mietpreisbindung, die sie praktisch unkündbar machten. Das neue Management musste seine Sanierungspläne immer mehr zurückfahren. Nach 2008 tat die Wirtschaftskrise das Übrige. Sie gaben auf und suchten einen Käufer.
Doch nicht alle Chelsea-Bewohner solidarisierten sich mit Nash und seinen Mitstreitern. Der irische Schriftsteller Joseph O’Neill etwa, der bis vor Kurzem im sechsten Stock gewohnt hat, distanziert sich entschieden von den Krawallmachern. »Diese Leute haben nie für uns alle gesprochen«, sagt er, während wir etwa eine Woche nach dem Chelsea-Verkauf in einem Café in der Nähe des Hotels sitzen.
Joseph O’Neill hat einen weit weniger sentimentalen Blick auf das Chelsea als Arthur Nash. Er wollte nie ein »Chelsea-Künstler« werden, ihn zogen nicht die Geister von Andy Warhol und Janis Joplin an die 23rd Street. Ihn trieb keine Nostalgie nach der alten Downtown -Boheme, sondern die schiere Notwendigkeit. Als er 1998 aus England nach New York kam, stand er vor dem gleichen Problem, vor dem viele Einwanderer hier stehen. Ohne überprüfbare amerikanische Bank- und Kreditkartendaten würde ihm kein Vermieter in New York einen Mietvertrag geben. Außer Stanley Bard.
Ironischerweise wurde O’Neill jedoch genau das, was er nie werden wollte. Der gebürtige Ire ist der vielleicht letzte bedeutsame Künstler, der im Chelsea gelebt und gearbeitet hat. Sein Roman »Netherland«, der im Chelsea entstanden ist und in dem das Chelsea eine zentrale Rolle spielt, gewann 2008 den renommierten PEN -Preis und wurde von der New York Times zum Buch des Jahres gewählt. Unter Kritikern gilt er als der bislang gelungenste Roman über das New York der Post-9/11-Ära.
Aus dem Chelsea zog O’Neill Anfang 2011 aus – aus privaten Gründen, wie er sagt, auf die er nicht weiter eingehen möchte. Seine Frau und seine beiden Kinder, die im Chelsea aufgewachsen sind, wohnen noch immer dort.
Natürlich sind die Parallelen zwischen seiner Situation und dem Erzähler seines Buches kein Zufall. Die Hauptfigur in »Netherland« ist ein holländischer Geschäftsmann, der nach den Anschlägen des 11. September seine Wohnung in der Nähe von Ground Zero räumen musste und im Chelsea landete. Seine Frau nimmt den 11. September als Vorwand, um ihn und New York zu verlassen und hinterlässt ihn in einem Zustand der
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