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Lesereise Nordseekueste

Lesereise Nordseekueste

Titel: Lesereise Nordseekueste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Stelljes
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verlieren dann den Familienanschluss. Worüber sie sich lautstark beklagen, darum nennt man sie auch Heuler. In Norden-Norddeich werden sie aufgepäppelt und einige Wochen später wieder in die Freiheit entlassen.
    Deutlich schlechter sind die Sympathiewerte für die Silbermöwe. Auch sie begegnet uns spätestens bei einer Fährüberfahrt, am Ende des Schiffes, da, wo die Deutschlandfahne weht. Die Tiere wissen, dass es auf diesen Fähren unbedarfte Menschen gibt, die gerne Bockwurst essen, das Brot aber verschmähen. Die dieses Brot sogar in die Luft werfen und sich über die Flugkünste der Möwen freuen. Das geht so lange gut, bis ein Mitglied der Besatzung mehr oder weniger freundlich darauf hinweist, dass man genau das doch bitte lassen soll. Weil sonst immer mehr Möwen kommen. Und weil deren Kot ätzend ist, im wahrsten Sinne des Wortes. Und weil wirklich niemand Lust hat, das Deck zu schrubben.
    Nein, das Verhältnis zwischen Mensch und Möwe ist nicht ganz spannungsfrei. Wer nur die warnenden Schilder auf einer Fähre oder Insel liest, bekommt einen ganz schlechten Eindruck von dem Tier. Zu Unrecht, findet Jan Weinbecker. Der Nationalparkwart von Langeoog gehört zu den wenigen bekennenden Möwenfreunden. Er zitiert Goethe, nicht Johann Wolfgang von, sondern Friedrich, eine Koryphäe in Sachen Vogelforschung: »Ich geb den ganzen Vogelsang für einer Möwe Schrei!« Goethe fand heraus, dass es bei den Silbermöwen nicht nur einen Schrei gibt, sondern gleich vierundzwanzig verschiedene. Ein paar davon kennt auch Weinbecker, etwa den für »Bodenfeind«, der immer dann ertönt, wenn er sich einer Kolonie nähert, um den Bestand zu kartieren. Will Weinbecker die Silbermöwen dagegen nur beobachten, geht er zur Melkhörndüne. Sie ist über zwanzig Meter hoch und damit die höchste Erhebung weit und breit. Urlauber lassen hier den Blick schweifen, Weinbecker konzentriert sich auf das Geschehen in unmittelbarer Nähe. Er stellt sein Spektiv scharf auf ein grau-braunes Knäuel am Fuße der Düne: ein Silbermöwen-Küken. Ganz in der Nähe die aufmerksamen Eltern, sie wechseln sich ab bei Wache und Fütterung. Es geht partnerschaftlich zu. Möwen binden sich immer nur für eine Brutzeit, »monogame Saisonehe« nennen das die Ornithologen. Es sind imposante Tiere mit einer Flügelspannweite von bis zu eineinhalb Metern. Mit gelben Augen, einem gelben Schnabel und einem roten Punkt am unteren Ende des Schnabels – einer Art »Futterknopf«, sagt Weinbecker. Die Jungtiere wissen: Picken sie gegen diesen Punkt, öffnet sich der elterliche Schlund und bringt Nahrung hervor. Würde man diesen Punkt übermalen, der Nachwuchs würde glatt verhungern, Verhaltensforscher haben das in Experimenten festgestellt.
    Die Möwenkolonie liegt in der Ruhezone des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Ruhig geht es allerdings nicht zu, schon gar nicht in den Mai- und Juniwochen. Dann tobt hier ein Kampf auf Leben und Tod, die an- und abschwellende Melodie der Vogelstimmen verrät es. Weinbecker deutet auf einen Graureiher, der sich der Kolonie nähert. Er startet zwei, drei Angriffe, in der Hoffnung auf ein schmackhaftes Küken, und dreht dann doch wieder ab – zu stark ist die kollektive Abwehr, die ja gerade der Sinn einer solchen Kolonie ist. Dass sich Silbermöwen manchmal auch selbst über Nachbargelege hermachen und kannibalisch kleine Artgenossen vertilgen, trägt viel zu ihrem schlechten Ruf beim Menschen bei. Wenn Urlauber dann auch noch mitansehen müssen, wie Silbermöwen einer Entenmutter ein Küken nach dem anderen rauben, ist auch die letzte Sympathie dahin. Insulaner zucken da nur mit den Schultern: So ist sie eben, die Natur.
    Gerade auf Langeoog darf die Silbermöwe vielleicht mit etwas mehr Verständnis rechnen, schließlich ist ihre Beziehung zum Menschen hier traditionell eng. Bereits 1875 wurde die Möwenkolonie unter Schutz gestellt. Nicht etwa aus Tierliebe, sondern weil die Insulaner erkannten, dass Kot und Speisereste einen guten Dünger gaben – und den hatte die karge Dünenvegetation bitter nötig. Seit dieser Zeit wird die Kolonie bewacht, jedenfalls in der Brutzeit. Damit keiner die Möweneier klaut, eine Lieblingsspeise auch von Reichskanzler Otto von Bismarck. Für die Suche bekamen Langeooger Kinder früher sogar extra zwei oder drei Tage schulfrei und einen Eimer in die Hand gedrückt. »Da war alle halbe Meter ein Gelege, da war alles weiß«, erinnert sich Otto Fischer, der später lange

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