Lesereise Nordseekueste
der Landseite, wo er nicht fortgespült werden kann. Vielleicht sogar mit einem Aussichtsturm, »damit man über den Deich gucken kann«. Ihre neue Idee präsentierten sie erst dem Bürgermeister, der hellauf begeistert war, und ein paar Wochen später »ganz nebenbei« auch den Vertretern der regionalen Presse. Tags darauf stand in der Emder Zeitung das Wort »Trockenstrand«. Ein Strand ohne Meer, das klingt absurd, dachte selbst Kalkhoff, passte aber irgendwie zu Ostfriesland und rief wohl auch deshalb sofort die Vertreter der überregionalen Presse auf den Plan. »Ich glaube, ich habe jeden deutschen Fernsehsender kennengelernt«, erinnert sich der Wahlostfriese, der beteuert, dass das Ganze kein PR -Gag war. Und der irgendwann aufgegeben hat, den Gegenwert all dieser Berichte in Anzeigen auszurechnen …
Mittlerweile weisen Schilder den Weg zu einem Strand, der in Schulbüchern unter »Kurioses aus Deutschland« geführt wird. Und Andreas Schwarz, der im Kiosk gleich neben dem Trockenstrand arbeitet und die Strandkörbe vermietet, muss seit Jahren immer wieder dieselbe Frage beantworten: »Wo ist denn hier ein richtiger Sandstrand?« Da kann er dann auch nur mit den Schultern zucken, weil sich die Leute mal wieder nicht richtig klug gemacht haben. Genau genommen ist es ja auch nur eine kleine Sandfläche, kleiner als ein Fußballfeld. Aber eben binnendeichs, mit Bänken und Grillplatz. Und baden kann man hier schließlich auch, wenn auch nur auf der anderen Seite vom Deich. Dafür stellt man sich am besten die Uhr, meint Schwarz. »Die Stunde vor dem Hochwasser ist immer die beste.«
Zum Kiosk von Andreas Schwarz kommen nicht nur Leute, die einen Strand suchen, sondern auch Leute, die verstehen wollen, was an diesem Wattenmeer so toll ist und wieso sich das Ganze Nationalpark und Weltnaturerbe nennen darf. Für solche Fragen gibt es Wattwanderungen, und die von Insa Steffens gehört zweifelsohne zu den unterhaltsamsten an der deutschen Nordseeküste. Steffens leitet das Nationalparkhaus in Greetsiel. Ein- bis zweimal pro Woche schart sie in Upleward die Wattwanderer um sich und führt sie über eine Treppe in ein feuchtes Grau, das auf den ersten Blick so tot wirkt und doch voller Leben steckt. In jedem Quadratmeter tummeln sich unzählige Schnecken und Millionen von Kieselalgen – ein Ökosystem, so produktiv wie sonst nur noch der tropische Regenwald. Manchmal kommen die Leute aber auch nur nach Upleward, um aufs Wattenmeer und rüber nach Holland zu gucken. Abends, kurz bevor die Sonne in der Nordsee versinkt, versammeln sie sich am Fuße des Deiches, beobachten die Austernfischer – und schweigen. Nur der Wind ist zu hören und vielleicht noch das Schnarren der Lenkdrachen, die ein paar Unermüdliche oben auf der Deichkrone durch die Luft sausen lassen. Das sind Momente, in denen es in der Krummhörn besonders friedlich zugeht.
Nur ein paar Hundert Meter vom Trockenstrand entfernt wohnt Doris Müller-Schöningh. Die Landwirtin hat, wenn man so will, eine ganz andere Sicht auf die Krummhörn. Wenn sie zum Fenster hinausschaut, sieht sie Windräder. Überall Windräder. Darunter die riesigen Prototypen auf dem Rysumer Nacken. Dort hat Deutschlands Branchenprimus, die Firma Enercon, zwei Forschungsanlagen errichtet, knapp zweihundert Meter hoch, der Kölner Dom ist nichts dagegen. Dort testet auch Offshore-Pionier Bard seine Windräder, die in der Nordsee zum Einsatz kommen sollen. Es ist nicht so, dass Doris Müller-Schöningh etwas gegen Windräder hätte. Ganz im Gegenteil, sie hätte selbst gern eine Anlage auf dem Hof. Nur hat sie keine Baugenehmigung bekommen. Das Vogelschutzgebiet, in dem sie wohnt, war nur einer der Gründe. Da war nichts zu machen, auch auf juristischem Weg nicht. Danach hat sie eine Weile Bustouren zum Thema »Erneuerbare Energien« organisiert. Denn inzwischen gehören nicht nur Windräder, sondern auch Fotovoltaik-Anlagen in dieser Region zum Alltag. So gesehen hat die Krummhörn Zukunft.
Was allerdings nicht unbedingt für das Leben in den Dörfern gilt. Neunzehn sind es, und jedes hat seine ganz eigene Identität. Fragt man Ina Ross, wo sie wohnt, dann sagt sie nicht Krummhörn, dann sagt sie Rysum. Wer immer sich für die Geschichte von Rysum interessiert, kommt an der Rentnerin nicht vorbei. Schon als junges Mädchen hat sie auf Wunsch des Pastors angefangen, Leute durchs Dorf zu führen. Und seither unzählige Stunden in Archiven gehockt und Kirchenbücher gewälzt. Kein
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