Lesereise Nordseekueste
Haus, zu dem sie nicht eine Geschichte erzählen könnte. Manchmal rufen sogar Amerikaner an und fragen, ob sie nicht etwas über diesen oder jenen Urahn berichten könne. »Da muss ich gar nicht nachgucken, das weiß ich so.« Rysum ist ein Rundwarftendorf, für viele das schönste überhaupt. Ein künstlicher Hügel, aufgeschichtet zu einer Zeit, als noch kein Deich die Menschen vor den Fluten der Nordsee schützte. Alles strebt hier zur Mitte hin, zur Kirche, die Wege genauso wie die Giebel der großen Gulfhöfe, mächtige Backsteinbauten mit Wohnräumen vorne und Scheune und Stallungen hinten. Ein ruhiges Dorf, selbst in der Hochsaison.
Zu ruhig, findet Ina Ross, manchmal sogar »tot und leer«. Früher war hier viel mehr Leben, Familien mit zehn Kindern waren keine Seltenheit. Die Landwirtschaft war Hauptarbeitgeber, und rund um die Kirche hatten sich Bäcker, Schneider und Schuster angesiedelt. Und heute? Heute arbeiten die Leute in Emden, bei VW oder einer der vielen kleineren Firmen. Im Dorf gibt es nur noch einen Bäcker. Und die jungen Leute ziehen weg oder bauen neu, in der Siedlung, die Häuser im Dorf sind ihnen zu klein. Die kaufen sich dann Leute von sonst woher. Und dann stehen diese Häuser leer, weil die Käufer so gut wie nie da sind. Wobei es auch Investoren gibt, für die Ina Ross voll des Lobes ist. Für die neue Besitzerin des Fuhrmannshofs zum Beispiel, ein Gulfhof aus dem 18. Jahrhundert, mustergültig restauriert. Allein die Scheune, die heute einen Konzertsaal birgt.
Mitunter kommen ganze Busgesellschaften. Meist steuern sie geradewegs die Kirche an, in der sich der ganze Stolz der Rysumer befindet: die älteste noch bespielbare Orgel Europas, gebaut 1457. Mit Tasten aus Ochsenknochen und Pfeifen aus Blei. Ein Import aus Holland, bezahlt mit ein paar fetten Rindern. Und weil die Rysumer auch in den Jahrhunderten danach kein Geld hatten, um diese Orgel restaurieren zu lassen, blieb sie in ihrer Grundsubstanz unverändert und ist heute einer der größten kulturellen Schätze Ostfrieslands. So ist Rysum zum Leidwesen von Ina Ross zwar an den Rändern ein wenig ausgefranst, aber die Orgel und vor allem der dörfliche Charakter sind erhalten geblieben. Wenigstens das.
Zwischen Rysum und Greetsiel liegen zwar nur siebzehn Kilometer, in mancherlei Hinsicht allerdings auch Welten. Greetsiel lässt kein Krummhörn-Besucher aus. Drei Dinge erwarten die Leute von einem Dorf in Ostfriesland, hat ein kluger Kopf mal gesagt: Kutter, Mühlen und einen Leuchtturm. Und nur ein Dorf erfüllt all diese Anforderungen: Greetsiel. Zugegeben, der Leuchtturm liegt etwas außerhalb, am Deich von Pilsum. Aber dafür gibt es in Greetsiel gleich zwei Mühlen: die beiden Galerieholländer am Ortseingang. Und dazu über zwanzig Kutter, von denen ein paar eigentlich auch immer im Hafen liegen, es ist eine der größten Flotten an der deutschen Nordseeküste. Und weil auch das ganze Drumherum sehr ansehnlich ist, kommen viele Menschen. Stehen erst auf dem alten Sieltor und schauen, wenn sie Glück haben, einem Fischer dabei zu, wie er die Krabben, das »Gold Greetsiels«, an Land bringt. Und trinken dann ein Tässchen Tee bei Poppinga. Kein Reiseführer, in dem Poppinga’s Alte Bäckerei nicht angeführt wäre. Eine altehrwürdige Einrichtung mit vier Tischen; halb Teestube, halb Museum, man könnte auch sagen: die gute Stube der Krummhörn. Hier drehen Fernsehteams nette Geschichten über Greetsiel. Ein Schwenk über die beiden Butzen , in denen früher die älteren Herrschaften nächtigten, ein Zoom auf die für die Krummhörn so typischen Blockrahmenfenster, ein kurzer Plausch mit Inge Ysker über den alten Verkaufstresen hinweg – und tschüss.
Dabei kann Inge Ysker so viel erzählen. Sie ist eine echte Greetjer Deern und wie Ina Ross nie groß rausgekommen aus ihrem Dorf. Nur dass Greetsiel in ihren Erinnerungen früher ein ruhiges Dorf war. Die kleine Inge badete noch bedenkenlos im Hafen. Auf den Schiffen war »kein Radar, kein Nichts«, nur der Kessel für die Krabben. Die Männer hatten Holzschuhe an den Füßen, und im Dorf roch es immer ein wenig streng nach Fisch. Und die alte Mareika Poppinga lugte aus der Klöntür ihrer Bäckerei. Diese Klöntür , die man oben und unten separat öffnen kann, gibt es immer noch. Genauso wie das Erkerfenster gleich daneben. Und dahinter »die alte Wohn- und Gewerbekultur«, denn die möchte Inge Ysker unbedingt erhalten.
Im Gegensatz zu Rysum ist in Greetsiel heute
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