Lesereise Nordseekueste
Turnerbunds in geschlossener Formation und im Gleichschritt zur Stadt hinausmarschierten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden dann erstmals auch Frauen bei Kohlpartien gesichtet. Ganze Damenriegen von Sportvereinen taten es nun den Herren gleich. Und obwohl, so ein Zeitungsbericht aus dem Jahre 1934, bei einer solchen Damenfahrt nur Kaffee und vielleicht noch ein Likör getrunken wurde, soll es dem Vernehmen nach doch recht lustig zugegangen sein. Immer mehr gingen jetzt auch ganze Belegschaften auf Tour, von den Nationalsozialisten, die politische Aktivitäten befürchteten, noch argwöhnisch beobachtet. Vereinzelt wurde das Vergnügen sogar verboten.
In den fünfziger Jahren boomte die deutsche Wirtschaft. Als dann auch noch der Samstag zu einem arbeitsfreien Tag wurde, gab es kein Halten mehr, konnte doch nun am Samstag gefeiert und am Sonntag der Kater auskuriert werden. Seither sieht man im Winter zahlreiche Gruppen durch das Land ziehen. Ein Bollerwagen dient dem Transport geistiger Getränke. Fast jeder hat sich ein Schnapsglas, ersatzweise einen Eierbecher umgehängt. Ziel dieser Gruppen ist nahezu immer ein dörflicher Gasthof. Kohlfahrten sind für viele Gastwirte willkommene Lückenfüller, gerade in den ereignisarmen Monaten von November bis Februar. Auch der Friesland-Stern in Horum ist dann auf Wochen hinaus ausgebucht. Je mehr Oldenburger im Saal sind, desto mehr Wurst, Kassler und Bauchspeck müssen auf den Tisch, sagt Gisela Eden, die Chefin des Hauses. Denn Oldenburger langen besonders kräftig zu. Auswärtigen dagegen ist vor allem die Pinkelwurst suspekt. Dabei gehören Grünkohl und Pinkel zusammen »wie Mann und Frau«, meint Schlachter Peter Bökamp aus Wardenburg. Mit der Pinkel ist es ein bisschen wie mit Coca-Cola: Die genaue Zusammensetzung wird nicht verraten. Jeder Schlachter hat seine eigene Rezeptur. Alles wird jedenfalls gut vermengt und in Därme gefüllt, traditionell in einen gereinigten Rindermastdarm, auf plattdeutsch Pinkel . Denn der ist schön fett. Aber auch ein bisschen zäh, meint Bökamp. »Wir nehmen einen Schweinedarm, den kann man mitessen, der ist biologisch abbaubar.«
Dass Pinkelwurst bis zu achthundert Kalorien pro hundert Gramm hat, sich also auch als Bergsteigernahrung eignen würde, interessiert im Friesland-Stern kaum jemanden. Hier hat man inzwischen die Kohlkönige auserkoren. Früher wurden stets die größten Esser inthronisiert, auch wenn die nicht ganz einfach zu ermitteln waren. Strenge Traditionalisten schicken auch heute noch alle auf die Waage, einmal vor und einmal nach dem Essen. Doch die meisten Kohlfahrer ermitteln ihr Königspaar nach anderen Regeln, und nicht selten werden die neuen Regenten bereits im Vorfeld ausgeguckt.
So ist es auch beim »Defftig Ollnborger Gröönkohl-Äten« im fernen Berlin. In der Vertretung des Landes Niedersachsen organisiert die Stadt Oldenburg im Januar oder Februar eines jeden Jahres eine politische Veranstaltung ersten Ranges, fast eine Art Staatsakt. Für die Wahl des Kohlkönigs gibt es eigens ein »Kurfürsten-Kollegium«. Die mächtige Kette, gemeinhin »Schweineorden« genannt, erhalten jedoch nur politische Akteure, von denen man sich erhofft, dass sie oldenburgische Interessen auch mit Nachdruck vertreten. Auf dieser Kette stehen die Namen aller Kohlmajestäten seit 1956 – ein Who is Who der deutschen Politik, die Kanzlerriege zum Beispiel, von Helmut Schmidt bis Angela Merkel. Aber auch Joschka Fischer durfte sich die Kette schon umhängen und musste sich vermutlich wie Helmut Kohl allerlei Wortspielchen anhören, von wegen Grünkohl. Ob es in Berlin allerdings auch so hoch hergeht wie in Horum, das ist noch die Frage. Denn dort entflammen sie den Friesengeist zu später Stunde tablettweise mit dem Bunsenbrenner …
Der Inselvogt
Allein mit bis zu hunderttausend gefiederten Freunden
Memmert ist anders. Anders als alle anderen Ostfriesischen Inseln von Borkum bis Wangerooge. Memmert tanzt ein bisschen aus der Reihe, das erkennt man bereits beim ersten Blick auf eine Karte. Das grüne Etwas südwestlich von Juist – das ist Memmert. Eine unbebaute Insel, sieht man mal von einem einzigen festen Haus ab. In diesem Haus lebt Enno Janßen. Der Achtundvierzigjährige ist Inselvogt und so etwas wie der Robinson Crusoe unter den Mitarbeitern der Nationalpark-Wacht. Das Erste, was auffällt, wenn man ihn anruft, ist seine tiefe, sonore Stimme, das Zweite die norddeutsch-bedächtige Art, mit der er
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