Lesereise Nordseekueste
ich jetzt dieser typische Einsiedler oder Eremit wäre.« Er hält es einfach nur gut aus, so alleine in der freien Natur. Keine Krise zwischendurch? »Nee, bislang nicht.« Höchstens mal ein »kurzer Moment, wo man die Sau rauslassen will«. Aber der geht vorbei, dann hört er eben Musik.
Als er auf Memmert anfing, 2003, erlebte er gleich einen Topsommer und »karibische Verhältnisse, dann ist das Wasser tatsächlich türkisblaugrün schimmernd«. Nur dass ihm zum Baden die Zeit fehlte. In den ersten Monaten wurde er von Reiner Schopf eingearbeitet, seinem fast schon legendären Vorgänger, der dreißig Jahre auf Memmert verbracht hat, länger als der fiktive Robinson auf seiner Insel. Auch über die Wintermonate, selbst 1979/80, da blieb ihm allerdings auch nichts anderes übrig, schließlich war die Nordsee zehn Wochen lang zugefroren. Schopf hatte sich der Insel mit Haut und Haar verschrieben, ein Nichtschwimmer, ausgerechnet. Leidenschaftlich machte er sich für den Naturschutz stark, bezog mit Fernglas und Thermoskanne Stellung und vertrieb auch noch den letzten Eierdieb, der heimlich der Insel einen Besuch abstattete. In langen Leserbriefen an ostfriesische Tageszeitungen beklagte er die Nutzungskonflikte im »Pseudo-Nationalpark« und die mangelnden Kompetenzen der Nationalpark-Warte – was ihm den Ruf eintrug, ein »grüner Spinner«, ja »Menschenfeind« zu sein.
In diesem ersten Sommer erfuhr Janßen von Schopf, was man als Inselvogt so wissen muss. Zum Beispiel bei der Brutvogelerfassung, einer seiner Hauptaufgaben. Von April bis Juli durchkämmt er die Insel, jeden Quadratmeter, achtmal insgesamt. Und verzeichnet jede Heringsmöwe, jede Rohrweihe und jeden Kormoran in einer Karte. Der Warnruf des Wiesenpiepers, der feine, aber durchdringende Ton des Austernfischers – er hört es heraus, sagt Janßen, selbst im Tohuwabohu einer Möwenkolonie. Bis zu sechzig verschiedene Arten brüten auf Memmert. Die Frage nach seinem Lieblingsvogel mag er gar nicht beantworten, denn eigentlich mag er sie ja alle, nur den Löffler vielleicht ein bisschen mehr, »eine Ibisart ist das, ein total lieber Vogel«. Mit einem Schnabel, dessen Ende an einen Löffel erinnert. Auf Memmert ist die größte Löffler-Brutkolonie in Deutschland.
Und die Insel selbst, wie groß ist die? »Bei mittlerem Tidehochwasser so um die sechshundertfünfzig Hektar«, also gut sechs Quadratkilometer. Bei einer Springflut bleiben vielleicht noch vierhundert Hektar, dann sind im Osten die unteren Salzwiesen komplett überschwemmt. Und bei einer richtigen Sturmflut? Dann wird Memmert kleiner und kleiner, dann ertrinken all die Brüter, die ihre Nester nicht hoch genug gebaut haben. Der Blitzableiter auf dem Dach kreischt, mit den Randdünen bricht vielleicht auch noch der letzte Schutzgürtel ums Haus weg, ganz langsam, und am Ende ragen noch drei Prozent der Inselfläche aus dem Wasser. Das sind albtraumhafte Situationen, sagt Janßen, vor allem nachts. »Du siehst nichts, du hörst alles, und du kannst nur abwarten.« Dann macht er das Licht aus und geht ins Bett. »Ich hab großes Urvertrauen.« Und am nächsten Morgen sieht die Welt auch auf Memmert meist schon wieder ganz anders aus.
Es gibt aber auch traumhaft schöne Momente, vor allem im Mai. Dann piesacken ihn noch keine Mücken und Bremsen, und auch sonst darf ihn niemand stören. Memmert gehört zur Schutzzone eins im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer, mehr Schutz geht nicht, rein administrativ gesehen. Wenn wirklich mal ein Segler bei Gewitter Zuflucht im Schatten der Insel sucht – okay. Aber wenn einer anlanden will, dann macht ihm der Inselvogt unmissverständlich klar, dass das nicht erlaubt ist. Groß gewachsen, wie Janßen nun mal ist, verfügt er über ein gehöriges Maß an natürlicher Autorität. Und die reichte bislang immer.
Nach Memmert kommt man also nur als Schiffbrüchiger oder mit einer Ausnahmegenehmigung. Oder über das Reisebüro Kiesendahl auf Juist, allerdings nur an ausgewählten Tagen im August und September und auch nur, wenn man sich vorher persönlich angemeldet hat. Dann führt Enno Janßen kleine Gruppen über seine Insel. Hier ein Blick durch das Spektiv auf die Seehunde, dort ein paar Infos über die Ernährungsgewohnheiten der Rastvögel, noch ein paar unvermeidliche Fragen, wie es denn so ist ohne Nachbar und E-Mail. Zwei Stunden vielleicht, dann ist er auch schon wieder allein. Allein mit bis zu hunderttausend Vögeln, von denen die
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