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Lesereise Nordseekueste

Lesereise Nordseekueste

Titel: Lesereise Nordseekueste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Stelljes
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des Zeltplatzes. Dort, beim Kiosk, trifft man Hartmut Brings, wenn es ihm zu eng wird im Dorf. Etwa dreißig Minuten Fußmarsch trennen Dorf und Zeltplatz. Und auf halber Strecke gibt es ja auch noch das »Old Laramie«, auf den ersten Blick vielleicht nicht unbedingt die Topadresse, ohne Zweifel aber eine der urigsten Kneipen an der deutschen Nordseeküste. Mögen im Dorf auch überall die Lichter ausgehen, im »Laramie« kann man immer noch gepflegt versacken, wenn die Kneipe nicht gerade wieder unter Wasser steht. Es gab Zeiten, sagt Inhaber Dirk Nannen, da konnte man »die Schollen mit der Mausefalle fangen«.
    Leider geht spätestens gegen einundzwanzig Uhr die letzte Fähre. Nur einmal im Jahr machen sie eine Ausnahme und hängen noch zwei Stunden ran: wenn Dorffest ist. Das feiern sie traditionell an einem Tag Ende Juli, an dem es traditionell auch fast immer regnet. Dann ordert Bürgermeister Bernd Fiegenheim ein Pils für die Musiker und sagt in vier Minuten und neununddreißig Sekunden ganz viele Dinge, die die meisten hier gerne hören: dass ihre Insel beschaulich ist, dass es keine Disko geben wird, keinen Golf- und auch keinen Flugplatz und schon gar keine Misswahlen. Applaus. Dann holen sich die Leute eine Bratwurst. Und keiner murrt, weil er in einer Schlange stehen muss. »Das ist eben so eine Art von Gelassenheit, die man mitbringen muss«, sagt Hartmut Brings, der an diesem Abend noch die nächste Ausgabe des Inselboten fertigmachen wird. Irgendwann, zu später Stunde, werden sie ihr Glas erheben und anstoßen auf eine Insel, die zu den schönsten und erfolgreichsten deutschen Sommerurlaubszielen gehört. In diesem Punkt sind sich wirklich mal alle einig. Und das wird wohl auch noch eine ganze Weile so bleiben.

Kohlfahrten
Warum erwachsene Menschen mit einem Eierbecher um den Hals übers Land ziehen
    Für Menschen, die zum ersten Mal den Nordwesten Deutschlands besuchen, ist die Begegnung mit den hiesigen Sitten und Gebräuchen bisweilen ein kleiner Schock. Justus Lipsius, ein Gelehrter aus Brabant, wurde schon 1586 Augenzeuge oldenburgischer Essgewohnheiten. In einem Brief hat er sich darüber ausgelassen, wie sich die Einheimischen über ein regionales Wintergemüse hermachten. Eine ungeheure Schüssel voll Kohl hätten sie verschlungen, mit einer dicken Brühe von Schweinefett obendrauf, fingerbreit soll sie gewesen sein. Es ekelte den Gelehrten, der nicht ahnen konnte, dass ihm seine kritischen Worte Ruhm bis in unsere Tage hinein sichern würden. Welcher andere Philosoph und Philologe wird im Oldenburger Land schon so häufig zitiert, vor allem in den Wintermonaten? Regelmäßig werden seine Zeilen hervorgekramt, zum Beispiel, wenn irgendwann im November mal wieder jemand in die Bütt steigt, um die »norddeutsche Grünkohlsaison« zu eröffnen. Der Brief dient quasi als Beweismaterial: Der Verzehr von Kohl hat im Oldenburger Land eine lange Tradition.
    Eigentlich darf Grünkohl ja erst ab dem Buß- und Bettag in den Topf. Doch es scheint, als könnten es die sonst so geduldigen Oldenburger gar nicht abwarten. Denn zum Kohlessen gehört ein geselliges Spektakel ganz eigener Art: die Kohlfahrt. Im friesländischen Horum treffen sich die ersten Gruppen schon Tage davor. Der Friesland-Stern, ein Zweihundertzwanzig-Betten-Haus, ist beliebter Ausgangspunkt, der Nordseedeich liegt schließlich nur gut einen Kilometer Luftlinie entfernt. Nicht wenige machen sich mit Friesengeist warm, einem flambierten Früchte- und Kräuterschnaps. Dann geht es zum Boßeln an den Deich bei Schillig. Vor den Kohlfahrern liegt ein etwa vier Kilometer langer, fast schnurgerader Plattenweg. Viel falsch machen kann man nicht: links liegt der Deich und rechts die Nordsee. Und weil irgendwie ja auch ein Kohlkönig ermittelt werden muss, gibt es am Ende noch eine ganze Reihe von Geschicklichkeitsspielen. Auch wenn der Blick schon ein wenig getrübt ist – für das Zielboßeln oder das Melken einer Schwarzbunten aus Pappe reicht es allemal.
    Zwischen einer Horumer Kohlfahrt und ihren historischen Vorläufern liegen Welten. Es waren vornehme Herrschaften, die vermutlich Anfang des 19. Jahrhunderts zu den ersten Kohlfahrten aufbrachen – damals noch reine Männersache. Kohlfahrten blieben über Jahrzehnte eine Art zünftige Landpartie für bessere Kreise. Das einfache Volk kam erst hinzu, als das Sozialistengesetz fiel und Vereine wie Pilze aus dem Boden schossen. Alte Fotos zeigen, wie die Mitglieder des Oldenburger

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