Lesereise Nordseekueste
Grotheer tippt mit einem Zeigestock auf eine Karte. Früher stand »Eversand-Oberfeuer«, wie der Turm ursprünglich hieß, etwa zwölf Kilometer entfernt am Wurster Arm, einer Fahrrinne der Weser. Gemeinsam mit einem Unterfeuer wies er ab 1887 den damals modernen Schnelldampfern den Weg von und nach Bremerhaven. Beide Feuer mussten in einer Linie liegen, dann war der Kapitän auf Kurs. »Sah er zwei Türme, dann war Holland in Not.«
Sechs Wochen Dienst, zwei Wochen Pause, sechs Wochen Dienst – das war der Rhythmus der beiden Männer, die auf dem Turm arbeiteten. Sie beobachteten die Schiffe und das Wetter, notierten alles fein säuberlich im Tagebuch, hissten Signalflaggen oder morsten Notrufe. Überhaupt durfte Leuchtturmwärter nur werden, wer das Morsealphabet beherrschte und mindestens zehn Jahre zur See gefahren war, also auch die Einsamkeit kannte. Nach Feierabend fingen sie sich bei Ebbe Krabben in den Prielen oder rösteten sich auf Omas altem Herd ihren Kaffee. Bis 1923 ging das so. Danach nutzten die Dampfer einen Weserarm weiter westlich. Der verwaiste Leuchtturm wurde zur letzten Rettung für Schiffbrüchige – wenn sie es noch schafften, die dreiundfünfzig Stufen bis zum Lagerraum zu erklimmen. Dort fanden sie Notproviant, Trinkwasser und Leuchtmittel.
Im Jahr 2003 wurde der hundertdreizehn Tonnen schwere Koloss nach Dorum geschleppt. Und weil die Wohn- und Diensträume noch weitgehend im Originalzustand waren und ehrenamtliche Helfer eine Menge Arbeit investierten, vermittelt der Turm heute ein unverfälschtes Bild vom Leben und Arbeiten der Leuchtturmwärter vor über hundert Jahren. Die dreidochtige Petroleumlampe wurde allerdings durch eine Energiesparlampe ersetzt. Der Turm leuchtet also wieder und ist sogar als Hafenfeuer von Dorum-Neufeld in den Seekarten verzeichnet. Fünf Seemeilen weit ist das weiße Licht zu sehen, also fast zehn Kilometer, und weiter darf so ein Hafenfeuer auch gar nicht leuchten.
PS : Der Name Wurster Land kommt – zur Enttäuschung vieler Kinder – nicht von der Wurst, sondern von der Wurt. So hießen früher künstliche Anhöhen, auf die die Menschen bei Hochwasser flüchteten, zu einer Zeit, in der es noch keine Deiche gab. Den ewigen Kampf mit den Naturgewalten dokumentiert das Deichmuseum in Dorum. Es gibt also einiges zu sehen im Wurster Land. Auch wenn es in kaum einem Reiseführer steht.
Weder »grüne Hölle« noch »Spießeroog«
Wie sich ein Image ganz, ganz langsam wandelt
Ein lauer Sommertag im Hafen von Spiekeroog. Sechshundertzwanzig Menschen drängeln sich im Bauch der Fähre, warten darauf, dass sich die schweren eisernen Türen endlich öffnen – für manch einen Großstädter die erste Geduldsprobe. Dann, auf der Gangway, ein kleiner Stau. Zeit, sich Gedanken über Ästhetik zu machen. Ja, es gibt sie tatsächlich, Menschen mit Bermudashorts und Socken in Sandalen. Ausgerechnet auf Spiekeroog, der Insel, die lange Zeit berüchtigt war für Urlaubsgäste mit Birkenstöckern an den Füßen und einem selbst gestrickten Pullover am Leib. Was haben sie nicht alle gelästert, selbst große Gazetten: Spiekeroog, die »grüne Hölle«, die »Vorahnung zur Öko-Diktatur«. Ein klebriges Image. Es ist längst überholt. Ein Blick auf die Sommergäste reicht.
Ein Schwall von Touristen ergießt sich über den Deich. Gleich dahinter das Dorf: gut achthundert Einwohner, überwiegend rote Klinkerbauten, die Fenster, Regenrinnen und Zäune grün oder weiß abgesetzt. Alles sehr idyllisch, auch so ein Wort, das häufiger fällt, wenn von Spiekeroog die Rede ist. Grün, idyllisch, traditionsbewusst, dörflich – das ist das Bild von Spiekeroog. So wie Baltrum als verschlafen gilt und Langeoog als familienfreundlich. Ein Image eben, mal über lange Zeit gewachsen, mal das Werk von Marketingstrategen. Bei Borkum, der größten ostfriesischen Insel, sollen wir an Hochseeklima denken, bei Juist, lang und dünn, an einen feinen Sandstrand und ein feines Publikum. Norderney gilt als »Grande Dame«, das älteste deutsche Nordseebad wird mitunter sogar als das Sylt unter den ostfriesischen Inseln bezeichnet, übrigens genauso wie Juist, dabei könnten die Inseln unterschiedlicher kaum sein. Und Wangerooge? Wird zwar umstandslos zu den Ostfriesischen Inseln gezählt, gehört aber politisch zum Oldenburger Land. Historisch gesehen war Wangerooge holländisch, französisch und gleich zweimal russisch, aber nie ostfriesisch. So ist jede dieser Inseln eine Welt für
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