Lesereise Nordseekueste
auseinanderklamüsert, dass man eigentlich keine Chance habe, nach Memmert zu kommen. Denn für die Insel gilt ein absolutes Betretungsverbot. Da macht die Nationalpark-Verwaltung in Wilhelmshaven so gut wie keine Ausnahme, höchstens mal außerhalb der Brutzeit. In der Zeit von April bis Juli wird das also schon mal gar nichts, sagt Janßen.
Vier Monate später im Hafen von Juist. Warten auf Enno Janßen. In der Tasche die »Behördliche Zulassung zum Betreten der Insel Memmert«. Am Ende des Priels, der zum Hafen führt, taucht ein Punkt auf. Ein kleines offenes Boot, keine fünf Meter lang. Das Dienstfahrzeug des Inselvogts, am Heck die Landesfahne mit dem Niedersachsenross. Der erste Eindruck: ein Freak mit Pudelmütze, Vollbart und Zigarillo, groß und hager, das lange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Janßen macht sein Boot direkt neben dem Seenotrettungskreuzer fest. Eigentlich sollten hier beim Büro des Hafenwarts vier Kanister Benzin stehen, brummt er und telefoniert. Kurze Zeit später fährt ein Kollege vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz mit einem Elektrokarren vor und bringt den Sprit. Noch ein Blick zum Himmel, dann wirft Janßen den Vierzig- PS -Außenbordmotor wieder an. In der Ferne grummelt »Christine«, so haben Meteorologen ein Tief getauft, das ausgerechnet heute über die Nordsee ziehen muss. Mit dreißig Stundenkilometern pflügen wir durchs Wasser. Kleine Birkenstämme markieren die Fahrrinne, die Pricken , auf der Steuerbordseite oben zusammengebunden, quasi umgekehrte Besen, auf der Backbordseite mit offener Krone. Meistens jedenfalls. Irgendwo nördlich von Juist schlägt ein Blitz in die Wellen. Es fängt an zu regnen. Janßen drosselt den Motor und kramt eine wetterfeste Jacke hervor. Immerhin kein Wind, sagt er, ein sicheres Zeichen, dass noch keine Gewitterwalze aufkommt. »Dann wird es gefährlich, aber das kann ich schon einschätzen.«
Kurz vor Memmert wirft Janßen den Anker. Barfuß waten wir an Land. Am Spülsaum eine tote Möwe und ein hölzerner Kasten, Janßen tippt ihn kurz mit dem Fuß an und lässt ihn dann liegen. Nach zwanzig Minuten erreichen wir sein reetgedecktes Haus in den Norddünen. Und weil »Christine« immer noch keine Ruhe gibt, geht Janßen erst einmal in die Küche und kocht einen Tee. Aus einem weißen Plastikkanister füllt er Wasser in den Kessel und schaltet den Herd an. Strom hat er dank einer Fotovoltaik-Anlage. Wenn die nicht ausreicht, kann er immer noch einen Dieselgenerator zuschalten. Die Küche ist der zentrale Ort im Haus. An der Wand ein Kalender, drei Monate auf einen Blick. Ein paar handschriftliche Notizen nur: »Spülsaumkontrollen«, bei denen Totfunde wie die Möwe gerade eben registriert und beseitigt werden. Oder »Zählwochenenden«, an denen Rast- und Watvögel erfasst werden. Ein Gedenkkreuz will er auch noch aufrichten, sagt Janßen, das liefert ihm seine Behörde, dafür gibt es aber noch keinen Termin. Es erinnert an Otto Leege junior, den ersten Inselvogt, der ab 1921 auf Memmert lebte. Was auch nur ging, weil Otto Leege senior, der »Memmert-Vater«, hier schon 1888 aktiv war und mit Treibholz und anderen Dingen erste »Sandfangmaßnahmen« durchgeführt hatte. Nur so konnte aus der kleinen Sandbank eine richtige Insel und Vogelschutzkolonie werden. Übrigens: Das Haus des Inselvogts stand früher ganz woanders. Heute ragen nur noch die Fundamente aus der Nordsee. Denn Memmert wandert nach Osten, ganz langsam, wie alle anderen Ostfriesischen Inseln auch. Der Wind, der Wind …
»So, der Tee ist fertig.« Janßen hockt sich auf das rote Sofa im Wohnzimmer und hantiert mit seinem Handy, es funktioniert nicht, man spürt, das ist ihm jetzt wichtig, kein Wunder, es ist seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Nein, meint er dann, der Vergleich mit Robinson Crusoe hinkt, denn der war ja gezwungenermaßen auf seiner Insel. »Und ich bin freiwillig hier.« Vorher war er technischer Angestellter beim gleichen Betrieb und hat Vermessungsdaten ausgewertet, zum Beispiel von Dünenabbrüchen auf Juist. Kurzum: Er kannte die Inseln, er kannte das Wattenmeer, er kannte die Nordsee. »Und ich kannte mich selbst gut genug, um einschätzen zu können, dass ich auch alleine sein kann.« Denn das ist er, von Anfang März bis Ende Oktober. In der übrigen Jahreszeit ist er an Land bei seiner Familie, schaut zwischendurch aber immer wieder auf Memmert nach dem Rechten. »Es ist nicht so, dass
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