Lesereise Nordseekueste
wiedererkennt.
Dangast präsentiert sich von seiner besten Seite: Der Himmel ist blau, die Frühlingssonne intensiv und die Schafe blöken. Ein »Künstlerdorf«, nicht nur dank Radziwill. Auch Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff, zwei Mitglieder der Dresdner Künstlervereinigung »Die Brücke«, weilten zwischen 1907 und 1912 wiederholt in Dangast und Umgebung. Der Legende nach soll Heckel beim Blättern im Atlas auf das Dorf am Jadebusen gestoßen sein. Auf jeden Fall versprachen Marschen, Moor und Meer reizvolle Motive. Im Sommer 1910 besuchte Max Pechstein die beiden, und vermutlich hätte sich auch Ernst Ludwig Kirchner zu ihnen gesellt, aber der hörte angeblich auf seine Freundin, die, aus welchen Gründen auch immer, gegen einen Aufenthalt an der Nordsee war. Sei’s drum – auch so wurde Dangast zu einem Ort auf der europäischen Karte der Kunstgeschichte und zu einer Pilgerstätte für Expressionismus-Fans.
Unter den Augen der Kaffeetrinker auf der Terrasse des Alten Kurhauses huscht die Gruppe zur nächsten Schautafel: die »Dangaster Landschaft« von Max Pechstein. Pechstein muss am Strand gestanden haben, als er das Alte Kurhaus auf seiner Leinwand verewigte, das erkennen die Kunstfreunde auf den ersten Blick. Okay, die Fenster und Stühle sind heute weiß, aber der Rest – unverkennbar Dangast. Ein paar Schritte weiter, im Schatten zarten Grüns, ein noch farbenfroheres Bild: »Roter Giebel« von Karl Schmidt-Rottluff. Nur wo, bitte schön, soll hier das Original sein? Das Haus, vor dem wir stehen, ist mausgrau. »Der Giebel war nie rot«, weiß Tina Reutter. Künstlerische Freiheit eben, vielleicht auch ein Beleg dafür, wie die Expressionisten die Farben empfunden haben. Heckel war ja sogar der Ansicht, dass der Schlick »in allen Farben schillert«. Was so ganz falsch nicht ist: Wer einmal bei Ebbe die Sonne untergehen sah, leuchtend rot hinter dem Deich, der weiß, dass da was dran ist. Im Vergleich dazu ist die Karibik enttäuschend, soll Radziwill nach der Rückkehr von einer langen Reise gesagt haben.
Neunzehn Stationen hat der Dangaster Kunstpfad, an sieben davon macht die Gruppe Halt, vergleicht Original und Reproduktion und strebt dann dem Rhabarberkuchen zu, von dem seit einiger Zeit immer wieder die Rede ist. Der wird serviert im Alten Kurhaus, noch ofenwarm, mit dick Baiser. Kurz rätseln die Kunstfreunde, ob der Rhabarber wohl frisch ist, bis ein Mann sie unterbricht. Es ist Karl-August Tapken, Chef und Seele des Hauses. In der Hand ein Steindruck von Erich Heckel: »Meine Großmutter, ganz naturalistisch.« Eine junge Frau noch, nicht hässlich. »Aber sexuell lief da nichts«, sagt Tapken, obwohl seine Großmutter das später, als die Bundespost eine Briefmarke mit einem Dangaster Motiv von Heckel herausbrachte, bedauert haben soll. »Was waren wir dumm«, habe sie da gesagt, »wenn noch mal so einer kommt, kümmern wir uns sofort drum.«
Karl-August Tapken hält ein zweites Bild in die Höhe: Dangast vor gut hundertzwanzig Jahren, schon damals ein beliebter Badeort, wenn auch zunächst vornehmlich für feinere Herrschaften und höhere Beamte aus Oldenburg und dem benachbarten Varel. 1797 hatte Graf Bentinck aus Varel hier von den Dangaster Bauern »ein paar Dünen gekauft«. Es war der einzige Ort weit und breit, wo die höher gelegene Geest unmittelbar an die Nordsee heranreichte, den Bau eines Deiches konnte man sich also sparen. Gute Voraussetzungen für ein Seebad nach englischem Vorbild, eines der ersten an der deutschen Nordseeküste. Bentinck ließ ein Konversationshaus errichten, mit Tanz- und Speisesaal, das allerdings abbrannte. An gleicher Stelle steht nun das Alte Kurhaus, das seit 1884 im Familienbesitz ist. Die Tapkens sind eine Art Dangaster Dynastie, bis heute: Bruder Friedrich-Wilhelm bewirtschaftet die Kurhaus-Klause, früher das Warmbadehaus, heute eine Kneipe; Bruder Anton schippert mit dem Fahrgastschiff »Etta von Dangast« durch den Jadebusen; Schwester Inge betreibt den Campingplatz. Und Karl-August steht im Kurhaus am Kuchentresen, seit 1956 schon.
Es ist siebzehn Uhr dreißig, die Kunst- und Kuchenfreunde aus Oldenburg sind längst weg, und Karl-August Tapken hat Zeit. Wenn er erst einmal ins Erzählen kommt, dann reiht sich Fakt an Fakt und Anekdote an Anekdote. Und wie er erzählt: Er steht unvermittelt auf, geht zur Tür und demonstriert, wie sich ein Gast dem Kursaal nähert, kritisch guckt und dann meint, dass sich ja überhaupt nichts verändert
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