Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
Mal zwischen den Krieg führenden Parteien hin- und hergereicht. Ab 1450 blieb sie bei Frankreich. Ludwig XIV . ließ den Militärhafen anlegen, aus dem nach diversen Baumaßnahmen unter anderem durch Napoléon die weiteste Reede der Welt wurde. Der ist, in Stein geschlagen, auch noch da: Auf der Place Napoléon steht sein Denkmal. Auf seinem Pferd sitzend, zeigt der Mann mit Dreispitz nicht etwa, wie man denken könnte, auf die bedrohlichen Wolken am Himmel, sondern auf seinen Militärhafen.
Im Juni 1944 wurde die Schlacht um Cherbourg geschlagen. Drei Wochen dauerte es, bis die deutschen Truppen besiegt und Hafen, Stadt und die ganze Halbinsel von den Alliierten erobert waren. In den letzten Kriegsmonaten war der wiederaufgebaute Hafen der wichtigste Nachschubweg der alliierten Truppen. Heute unterhält die französische Marine im Hafen eine Basis. Aber im Vergleich zur einstigen strategischen Bedeutung der Stadt, die 1992 mit der Nachbargemeinde zu Cherbourg-Octeville verschmolz, ist das nicht viel. »Zum Glück für uns gibt es noch das Arsenal«, sagt eine Stadtführerin und nickt ernst. Dort werden Atom-U-Boote gebaut. Dreitausend Arbeitsplätze bedeute das, ergänzt sie. Doch ist dieser Wirtschaftsfaktor kaum geeignet, Urlauber nach Cherbourg zu locken. Das soll die Titanic erledigen.
Der Luxus an Bord dieses Traumschiffs war schon zur Zeit der verhängnisvollen Jungfernfahrt Gegenstand lebhaften öffentlichen Interesses und ist entsprechend ausschweifend dokumentiert. Im Restaurant des Museums können Besucher ein – leicht modifiziertes und um den einen oder anderen Gang gekürztes – Titanic-Menü einnehmen: Einem Salat mit Champagnerdressing folgt dabei Rinderfilet mit Gänseleber; zum Abschluss gibt es Gateau Waldorf mit Kaffeecreme. Denn, so heißt es voller Stolz: An Bord des Luxusliners waren selbstverständlich französische Köche tätig.
Noch vor Tisch gilt es jedoch, sich mit einer der spektakulärsten Havarien des vergangenen Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Im Meeresmuseum können die Besucher in der nachgebauten Telegrafenstation das Morsen lernen und sich davon überzeugen, dass die Titanic-Forschung auch mehr als hundert Jahre nach dem Untergang noch immer neue Erkenntnisse gewinnt. Zugleich ist der Untergang der Titanic so lebendig aufbereitet, dass man hier auch an einem warmen Sommertag die tödliche Kälte einer Aprilnacht auf dem Nordatlantik zu spüren glaubt.
Bevor die Besucher des Meeresmuseums über eine Treppe in den nachgebauten Rumpf des Schiffes hinabsteigen, wird in der Zollhalle vom Aufbruch erzählt: von der Verzweiflung, die es braucht, um das Vertraute aufzugeben und sich auf die Reise ins Ungewisse zu machen, und von der Hoffnung, die das Abenteuer erträglich macht. Auf großen Leinwänden zeigen Filme Menschen, die ihre Reise in ein neues Leben mit Bündeln, Taschen und Wäschesäcken bepackt im Nahen Osten auf Eseln beginnen, die mit ängstlichen Blicken riesige Schiffe betreten, die im Bauch des Schiffes auf Pritschen liegen und auf das Ende der Reise warten. Im Heizraum schaufeln Arbeiter Kohle, auf den oberen Decks wird getanzt. Das Klassensystem der Alten Welt reiste mit nach New York, Rio de Janeiro und Buenos Aires.
Der ungarische Komponist Béla Bartók und seine Frau gingen 1940 in Cherbourg an Bord des Schiffes, das sie ins New Yorker Exil bringen sollte. Es war ein später, aber typischer Weg der Passagiere dieses Hafens. Eine Million europäische Auswanderer gingen zwischen 1895 und 1930 in Cherbourg an Bord der Ozeandampfer. Damit war der Hafen zwar längst nicht der größte des Emigrationsjahrhunderts, als ab 1820 sechsunddreißig Millionen Menschen Europa verließen: erst Engländer, während der Hungersnot der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts Iren, ab 1880 dann Italiener, Polen und Russen. Für eine relativ kleine Stadt im Norden der Normandie war es dennoch eine gewaltige Zahl an Durchreisenden, die eine regelrechte Industrie entstehen ließ. Für die Passagiere der späten Phase ließ die Schifffahrtsgesellschaft ein Stück außerhalb des Zentrums von Cherbourg sogar ein eigenes Hotel bauen: das »Atlantique«, das zweitausendfünfhundert Gäste beherbergen konnte und heute Sitz der Handelskammer ist. Die Übernachtung in dem Haus, das für viele Reisende Kulisse ihrer ersten Begegnung mit elektrischem Strom und fließendem Wasser wurde, war im Ticket inbegriffen.
Auch auf der Titanic reisten neben Amerikanern, die den Winter in Europa
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