Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
verbracht hatten, zahlreiche Emigranten. Von den zweihunderteinundachtzig Passagieren, die in nur eineinhalb Stunden in Cherbourg zustiegen, hatten die meisten jedoch Kabinen in der Ersten Klasse gebucht. Um zwanzig vor zehn am Vormittag hatten die Reisenden den Zug »New York Express« in Paris bestiegen, sechs Stunden später erreichte er Cherbourg. Die Passagiere der Ersten und der Zweiten Klasse wurden um siebzehn Uhr mit der » SS Nomadic« zur Titanic gebracht; die der Dritten Klasse mit der » SS Traffic«. Hundertdreizehn Amerikaner gingen an Bord, drei Deutsche, sechs Engländer, vierundfünfzig Libanesen sowie dreiundzwanzig Syrer, die in der Dritten Klasse reisten, ein Mexikaner und einundzwanzig Franzosen wurden neben anderen hier eingeschifft. Das Museum hat es in dreijähriger Arbeit geschafft, die Passagierliste für die Abreise aus Cherbourg fast vollständig zu rekonstruieren. Auch logistisch war der letzte Stop der Titanic in Kontinentaleuropa wichtig: Denn in Cherbourg wurde auch der Champagner aufgenommen, den die Passagiere der Ersten Klasse gerne und in Mengen zu sich nahmen.
Die Ausstellung zeichnet die Wege ganz unterschiedlicher Passagiere nach: Lucy Christiana Sutherland, achtundvierzig Jahre alt, reiste in Kabine A 20 und wurde nach der Havarie mit Rettungsboot 1 in Sicherheit gebracht. Dorothy Gibson, eine zweiundzwanzigjährige Schauspielerin aus New York, ging ebenfalls in der Normandie an Bord. Auch sie sollte überleben und drehte nach ihrer sicheren Ankunft in New York unverzüglich einen Stummfilm über den Schiffsuntergang.
Wiewohl die Gästeliste aus Cherbourg einen hohen Anteil an Jetsettern ausweist, gilt ein Schwerpunkt der Ausstellung den Emigranten, die in der Dritten Klasse reisten. Die Geschichten dreier Auswanderer hat das Museum in mehrjähriger Arbeit recherchiert. Es lässt sie, verkörpert durch Schauspieler, auf Bildschirmen selbst zu Wort kommen. Die fünfundzwanzigjährige Margaret Murphy erzählt, wie sie heimlich und mit schlechtem Gewissen ihr Elternhaus in Irland verließ, um nach Amerika auszuwandern; wie unglaublich luxuriös der Speisesaal der Dritten Klasse war, wo sie zum ersten Mal im Leben eine Orange aß; wie die jungen Auswanderer aus allen Teilen Europas und des Nahen Ostens unter Deck ausgelassene Partys feierten. Und wie es ihr und ihrer Schwester nach der Kollision mit dem Eisberg gelang, Plätze in einem Rettungsboot zu finden. Claus Abelseth aus Alesund sprang in letzter Minute vom Oberdeck des sinkenden Schiffes ins eisige Wasser und erreichte schwimmend ein Rettungsboot. Schließlich der Knabe Elias Nicola-Yarred aus dem Libanon. Er wurde noch vor Beginn der Schiffsreise von seinem Vater getrennt, der aus medizinischen Gründen nicht an Bord durfte und seine Kinder alleine vorausschickte. Elias und seine Schwester schafften es an Deck und wurden von einem Mann aus der Menge Verzweifelter gezogen und in ein Rettungsboot gesetzt: John Jacob Astor IV .
Von den Cherbourg-Passagieren sollten hundertvierundfünfzig überleben – mehr als die Hälfte, was sich durch den hohen Anteil an Erster-Klasse-Reisenden erklärt. Zu den Passagieren, die hier an Bord gingen, zählte auch jener schwerreiche Geschäftsmann Colonel John Jacob Astor, der außer seiner achtzehnjährigen schwangeren Frau Madeleine Talmage Force auch Kindern und Frauen den Weg in die Rettungsboote wies, bevor er mit dem Schiff unterging. Dass er im Angesicht des Todes andere zu retten versuchte, ist ein Beispiel für die geradezu übermenschliche Selbstlosigkeit, die nicht wenige Passagiere und Besatzungsmitglieder in den Stunden der Katastrophe bewiesen. Dass das Unglück nie geschehen wäre, hätten andere Menschen sich von der Vernunft leiten lassen, macht die Geschichte des Untergangs zu einer Tragödie, deren Faszination sich auch nach hundert Jahren nicht verschleißt.
1912 mochte man von diesem brandneuen Schiff wohl annehmen, dass seine Rettungsboote so wie alle künftigen nur mehr schmückenden Charakter besitzen würden. Und ein Kapitän, der nicht glaubte, dass Eis noch eine Gefahr für einen Riesendampfer wie die Titanic darstelle, stand mit seiner Annahme nicht alleine da – auch wenn man heute denken mag, es bedürfe keiner besonderen analytischen Fähigkeiten, um die Rechnung aufzumachen, dass viele Risse auf der Gesamtlänge eines Schiffes unweigerlich zu sehr viel Wasser im Inneren führen müssen.
Um zwanzig Uhr zehn legte die Titanic in Cherbourg ab und nahm Kurs
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