Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
einen namhaften Politiker hervor. Der vierundzwanzigste Präsident der französischen Republik wurde 1954 in der Hauptstadt der Normandie geboren.
Im kleinen Teesalon »Dame Cakes« ist es leicht, sich Paris fern zu fühlen. Unmittelbar neben der Kathedrale verbirgt er sich in der einstigen Werkstatt von Ferdinand Marrou, der den Vierungsturm des Gotteshauses entwarf. Die mit schmiedeeisernen Girlanden verzierte Fassade des zimmerbreiten Hauses erinnert an einen Schmied, der hier einst sein Geschäft betrieb. Innen sieht es ein bisschen aus wie in einer Puppenstube. Die Gäste sitzen bei Kuchen, quiche und Pastete oder lassen sich zur Teestunde eine mit süßen und herzhaften Köstlichkeiten beladene Etagere bringen. Hat man hier erst mal Platz genommen, ist man beinahe im Rouen des 19. Jahrhunderts angekommen.
Draußen ist der Himmel schwer, doch die Sonne des späten Nachmittags findet eine Lücke zwischen den Wolken und lässt die Gasse neben der Kathedrale aufleuchten. Zwischen Licht und Schatten erwachen die Geister der alten normannischen Hauptstadt: Krieger und Kirchenbaumeister, Händler und Heilige. Ein Skandinavier stürmt um eine Ecke, ein junges Mädchen fürchtet um sein Leben. Dann erscheint ein bärtiger Herr im Dreiteiler, eine Staffelei unterm Arm. Er schaut zum Himmel. Bleigraue Wolken und tiefe Sonne. Er hastet zurück zur Kathedrale.
Tag der Befreiung
An den D-Day-Stränden wurde am 6. Juni 1944 Weltgeschichte geschrieben
Mehr als fünf Jahre lang war Schloss Nacqueville während des Zweiten Weltkriegs und in der ersten Zeit danach besetzt. Vier Jahre lang hatte sich die Hitlerjugend in dem Prunkbau aus dem 16. Jahrhundert breitgemacht, nach der Befreiung kamen Amerikaner und blieben weitere eineinhalb Jahre. Die Letzteren unterhielten hier ein Lager für siebzigtausend deutsche Gefangene, die im Park untergebracht wurden. Die Ersteren hatten einen Fluss umgeleitet und den 1830 vom englischen Landschaftsarchitekten Capability Brown angelegten Park verwüstet.
»Meine Großeltern hatten anschließend viel Arbeit«, seufzt Florence d’Harcourt und lacht. Aber nur ein bisschen. Die Kirche, die Florences Urgroßvater erbauen ließ, hatten die Deutschen gesprengt. Das Schloss immerhin stand noch. Allerdings hatten die Amerikaner es khakigrün angestrichen. Schlimmer aber waren die Schäden an der Bausubstanz: Teile des steinernen Daches fehlten, die Kamine waren zerstört, die Räume leer. Kaum mehr als die Mauern aus Granit hatte die Besatzungszeit überdauert. Auch das Familienarchiv war verschwunden: »Sie haben alles verbrannt.« Nur ein paar Zeichnungen und Gedichte von Mitgliedern der Hitlerjugend fanden die Besitzer. »Sie hatten hier eine gute Zeit«, sagt Florence.
Die rechtmäßigen Besitzer hingegen wussten kaum, wo sie mit dem Wiederaufbau beginnen sollten. »Meine Großeltern wollten das Schloss schon aufgeben«, erzählt Florence, die hier heute mit ihrem Mann Thierry und drei Kindern lebt. »Aber es war seit 1880 in der Familie, seit mein Urgroßvater es gekauft hatte. Und es bündelte fünf Jahrhunderte normannischer Geschichte. Also fingen sie doch an, es instand zu setzen.« Zehn Jahre dauerten die Arbeiten. Der Park wurde wieder angelegt, das Interieur des Hauses neu gestaltet. 1962 öffneten sie den Park und ein Zimmer für Besucher.
Die Zugbrücke, die Außenmauer, das Dach, Garten und Park stehen heute unter Denkmalschutz. Das Interieur nicht – es wurde nach dem Krieg komplett neu gestaltet. Doch im Garten hat ein zweihundert Jahre alter Rhododendronbusch die Besatzung überdauert. Florence d’Harcourt ist dankbar, dass ihre Großeltern Hersent den Kraftakt auf sich nahmen, Nacqueville wieder zu seinem alten Glanz zu verhelfen. Obwohl sie mit ihrer Familie seit zwölf Jahren in Australien lebte, zögerte sie nicht, in die Normandie zurückzukehren, als sie den Besitz im Jahr 2000 erbte. Für Florence war es ein Wiedersehen. In dem in einem Tal gelegenen Schloss hatten sie und ihre vier Brüder in ihrer Kindheit die Sommerferien verbracht; später feierten sie und Thierry hier ihre Hochzeit.
»Ich hatte keine Ahnung von Gärten, als wir herkamen«, erklärt Florence freimütig. »Vieles habe ich einfach ausprobiert, auch Dinge, vor denen man mich gewarnt hatte. Zum Beispiel habe ich vor den Eisheiligen zu pflanzen begonnen, und damit natürlich prompt Schiffbruch erlitten.« Ihr Vater hatte in Paris gelebt und zwei Gärtner und zwei Helfer mit der Pflege von Park und
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