Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
redigierte, verwarf und verbesserte seine Texte viele Male.
Prévert soll der Nachwelt neben seinem Werk auch eine Botschaft hinterlassen haben – verborgen in der Landschaft, die er liebte. In der Nähe der Seerettungsstation Goury, auf einer kleinen Landzunge, die hier ins Meer ragt, hat er angeblich kurz vor seinem Tod einen Zettel vergraben. Mit Bleistift hatte er ein paar Worte gekritzelt: »Esst vom Gras, beeilt euch! Früher oder später wird es von euch essen.« Ob es diese Notiz wirklich gab? Man weiß es nicht. Aber passen würde sie, zum Land und seinem Dichter.
Auch mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod ist die Maison Jacques Prévert ein Besuchermagnet geblieben – und eine Quelle der Inspiration. »Es war kein sehr goßer Hafen. Ein gottverlassenes Nest, eine Handvoll Männer und ein paar Boote.« So zieht die 1961 geborene Schriftstellerin Claudie Gallay die Leser in ihren Roman »Die Brandungswelle«, der nicht nur in Frankreich ein großer Erfolg war. Schauplatz: ein Fischerdorf auf der Halbinsel La Hague. Der Protagonist Lambert, der als Fremder an diesen Urlaubsort seiner Kindheit zurückkehrt, wird nach dem Grund seines Besuchs gefragt. Ob er wegen des Sturms gekommen sei, der gerade zu toben beginnt? Als Lambert verneint, folgert Morgane, die ihn in der Bar bedient: »Dann wohl wegen Prévert. Alle kommen wegen Prévert …«
Tatsächlich kam auch Claudie Gallay seinetwegen nach La Hague. Denn Préverts Gedicht »Le gardien du phare aime trop les oiseaux« inspirierte sie zu ihrem Bestseller, in dem ein Leuchtturmwärter, der die Vögel zu sehr liebt, eine Katastrophe verursacht. Er schaltet die Lichter nämlich immer mal wieder ab, um zu verhindern, dass Vögel sich verirren und gegen die Fenster des Turms in den Tod fliegen – bis eines Nachts ein Boot verunglückt, weil der Leuchtturm den Kapitän nicht vor den Klippen gewarnt hat.
Claudie Gallay besuchte das Haus von Jacques Prévert, als sie »Die Brandungswelle« schrieb. Sie logierte im Hôtel du Cap in Auderville und erforschte jeden Hügel der Halbinsel. So fesselnd schildert sie die Landschaft, dass man beim Lesen das Salz in der Luft zu riechen glaubt. Auch Lambert erweist sich als jemand, dem diese Gegend nicht völlig fremd ist – nicht nur, weil ihn eine Tragödie mit ihr verbindet, sondern auch, weil er sich die örtlichen Gepflogenheiten schnell zu eigen macht. Während der Sturm schon beginnt, die Küste zu sezieren, platziert er im Lokal seine Bestellung: »Sintflut oder nicht, sechs Austern und ein Glas Wein, bitte!« Prévert wäre wohl dabei.
Die Tränen der Jungfrau
Rouen ist die Heimat von Dichtern, Denkern, Dampfplauderern – und normannischen Fürsten
Auf der Place du Vieux Marché zwitschern Vögel in den Platanen. In den Restaurants und Cafés ringsum plaudert die halbe Stadt. Seinen Namen trägt der Vieux Marché zu Recht: Seit tausend Jahren wird auf dem Marktplatz Handel getrieben. Durch eine von Geschäften gesäumte Gasse blickt man auf die fünfundsiebzig Meter hohe Tour de Beurre der Kathedrale. Dieser stolze Glockenturm verdankt seinen Namen (und seine Existenz) speziellen Ablässen, mit denen sich sündige Genießer einst den Luxus erkauften, während der Fastenzeit ohne Folgen fürs Seelenheil Butter und Sahne zu sich zu nehmen. Ein einträgliches Geschäft, dessen Gewinn gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Kathedralenstein umgesetzt wurde. So will es zumindest die populäre Lesart der Stadtgeschichte. Womöglich hatte der Klerus aber auch ganz prosaisch das Fastengebot außer Kraft gesetzt, um durch die Verkäufe zusätzlicher Milchprodukte das Geld für den Bau des Butterturms erwirtschaften zu lassen.
In der Mitte des Alten Marktes erhebt sich wuchtig der geschwungene, nahezu dreieckige Giebel der Kirche Sainte-Jeanne-d’Arc. Ihr Vorgängerbau aus dem 16. Jahrhundert wurde 1944 von den Alliierten getroffen, die die von den Deutschen besetzte Stadt zu befreien suchten; nur die ausgelagerten Kirchenfenster überstanden den Krieg und wurden in die fischförmigen Fenster der neuen, 1979 geweihten Kirche eingesetzt. Auch im Inneren finden sich maritime Symbole als Reminiszenz an St. Vincent, den Schutzpatron der zerstörten Kirche.
Das merkwürdige Bauwerk wirkt inmitten der schmalen Fachwerkfassaden auch bei wohlwollender Betrachtung wie ein Fremdkörper. Und doch passt es nicht schlecht auf diesen Platz, der über Jahrhunderte nahezu alles beobachtet hat, zu dem der Mensch imstande ist:
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