Lesereise Rom
Aktivisten einmal unverbrämt seinen Stolz auf diese Anerkennungen und Leistungen äußert, ist freilich selten, ein Eigenlob wird man schon gar nicht hören. »Wir sind eine Versammlung von ganz, ganz gewöhnlichen Leuten«, sagt Mario. »Wir müssen etwas tun«, sagt Rinaldo. Man darf nämlich, wie Cesare meint, gegenüber all dem, was in der Welt geschieht, »nicht einfach gleichgültig bleiben«.
Eine Wohnung für einen Espresso
Die Auswüchse römischer Vetternwirtschaft
In Italien hat es bis vor Kurzem Leute gegeben, die für eine Tasse Espresso mehr Geld ausgeben mussten als für ihre Monatsmiete. Nicht deshalb, weil der Kaffee besonders teuer war, vielmehr waren manche Mieten besonders niedrig. Die Zeitung La Repubblica machte 1995 jedenfalls in der sizilianischen Hafenstadt Messina einen Menschen ausfindig, dessen Monatsmiete exakt sechshundertvierzig Lire betrug. Das waren damals knapp dreißig Cent. Nun gut, die Wohnung lag am Stadtrand, in keiner guten Gegend. In anderen Vierteln zahlte man immerhin für ein Appartement einen Euro achtzig oder bis zu dreiundzwanzig Euro. Freilich nur, wenn man Mieter bei der städtischen Wohnungsgesellschaft war.
Auch in Rom kann man billig wohnen, wenn man weiß, wie es geht. An der Piazza Navona etwa, einem der schönsten Plätze der Altstadt, entdeckten Reporter der Zeitung Il Messaggero 1995 eine Unterkunft, deren Inhaber dafür nur siebzehntausend Lire (knapp acht Euro) im Monat zu entrichten hatte: Neunundzwanzig Quadratmeter, ohne Bad und Heizung, aber mit Terrasse. Vermieter war die Stadt, und deshalb wurde der Fall zur öffentlichen Angelegenheit. Ein Skandal brach los, auf den Tisch kam »eine neue Variation eines alten Themas des italienischen Lebens«, wie der Star-Journalist Enzo Biagi meinte. Das Thema heißt: Miss- und Vetternwirtschaft, Korruption, Begünstigung, Klientelismus.
Eine Erblast drückt. Die Stadt Rom besaß wie viele andere Gemeinden Italiens bis Mitte der neunziger Jahre Tausende von Wohnungen und Gewerberäumen. Diese wurden in jenen Jahrzehnten, als die Christdemokraten und ihre Partner ihr allumfassendes Parteienregime ausübten, zum Teil abenteuerlich billig vermietet. Örtliche Politiker und Beamte konnten auf diese Weise massenhaft Verwandte, Parteifreunde, Anhänger und Spezis aller Art begünstigen – für Gegenleistungen, versteht sich. Wählerklientel wurde gehalten, vielfach floss auch Geld, und manchmal wurden einflussreiche Leute mit billigen Wohnungen günstig gestimmt, etwa leitende Angestellte, Richter, Journalisten und Politiker. Dabei standen, als die Angelegenheit 1995 zu einer der tausend italienischen Affären wurde, nicht nur städtische Wohnungen in Rede, sondern auch die vielen Tausend zum Teil sehr gut gelegenen und komfortablen Appartements, die sich im Besitz öffentlicher Einrichtungen wie der Renten- und Pensionskassen der einzelnen Berufszweige befanden.
Es kam zum Beispiel zutage, dass ein Begünstigter für zweihundertvierundzwanzig Quadratmeter nahe der Spanischen Treppe, in bester römischer Lage also, nur umgerechnet gut vierhundert Euro Monatsmiete zu zahlen hatte, wo der Marktpreis bei etwa dreitausend Euro gelegen hätte. In langer Reihe gab es dergleichen Dinge mehr, auch in Mailand und anderen Städten. Jeder Fall lag freilich anders, rabiate Mietpreisbindungen aus alter Zeit und hoher Aufwand für Renovierungen waren in Anschlag zu bringen, und nicht immer war eine günstige Miete der Beleg für einen großen Skandal. Es erregte indes beträchtliches Aufsehen, dass unter den Erwischten auch mehrere führende Politiker der Demokratischen Linkspartei waren, jener Nachfolgepartei der Kommunisten, die einst gegen derlei Günstlingswirtschaft besonders heftig gewettert hatte.
Von links betrachtet, hat die Sache ja noch eine zweite skandalöse Seite. Wo öffentliches Eigentum denen günstig überlassen wurde, die eigentlich keine Hilfe brauchten, waren die wirklich Bedürftigen die eigentlich Betrogenen. Und auch die Steuerzahler, in ihrer Mehrheit Lohn- und Gehaltsabhängige der unteren Klassen, hatten den Schaden, weil die Städte mit ihrer Misswirtschaft gigantische Haushaltsdefizite erzeugten, zumal noch manche Mieter über Jahre hin die ohnehin günstige Miete nicht einmal zahlten, und zwar folgenlos. »Sicher ist, dass für vierzig Jahre der Umgang mit dem städtischen Besitz eine Katastrophe war«, erklärte Roms Bürgermeister Francesco Rutelli, ein Grüner, der Ende 1993 ins Amt gekommen war.
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