Lesereise Rom
andere helfen in der Via Dandolo Nr. 10, wenn dort die Ratlosen und die Hungrigen Schlange stehen.
Viermal in der Woche gibt die Gemeinschaft von Sant’ Egidio dort in den Räumen einer aufgelassenen Druckerei ein warmes Essen aus. Es kommen jedes Mal rund tausendfünfhundert Menschen, Ausländer die meisten, aus etwa hundert Nationen, die meisten auf dem Balkan beheimatet. Achthundert Mahlzeiten zahlt die Stadt Rom, den Rest finanziert die Gemeinschaft aus Spenden oder Beiträgen der Mitglieder. Jeder Gast erhält drei Gänge, jeder wird von einem freiwilligen Helfer bedient wie im Restaurant. Brot reichen sie mit der Greifzange, es wird hier nicht geschlampt, denn das hat, wie Cesare sagt, etwas zu tun mit Würde und Respekt. >
Man blickt in dieser Mensa in manches verschlossene, verängstigte Gesicht. Misstrauen malt sich auf den Mienen vieler, die auf langen Bänken in den Vorräumen warten oder die Liste studieren, die den Posteingang anzeigt. Doch gibt es da auch die alten Bekannten, die mit den Frauen und Männern von Sant’ Egidio im Lauf der Jahre gut Freund geworden sind. Es gibt den fröhlichen alten Matrosen mit dem Rucksack, der mindestens drei deutsche Militärkommandos nachmachen kann, und den gesprächigen Punk-Freak, der als Armreif eine verbogene Essgabel trägt. Die Armbanduhr hat er auf dem Schuh befestigt, um mit der Zeit Schritt halten zu können.
Schritt zu halten mit den Lebensformen und Problemen der Moderne war stets auch das Anliegen der Gemeinschaft Sant’ Egidio, von den Gründertagen an. Damals, in den bewegten Jahren 1968 ff. sahen sie sich als junge Christen, die »in der einen Hand die Bibel, in der anderen die Zeitung hielten«, wie Mario Marazziti sagt, der Sprecher der Gemeinschaft und Präsident der in Italien tätigen Gruppen. 1968 war ihnen nicht Fanal zur marxistischen Revolution, sondern zum Vorstoß an die Peripherie von Rom, in die unbekannte Welt der Armut, der geprügelten Frauen und der verwahrlosten Kinder. »Wir sind Söhne des Zweiten Vatikanischen Konzils«, sagt Marazziti, und nicht als Einziger nennt er immer wieder den Namen des Papstes Johannes XXIII., der mit jenem Zweiten Vatikanischen Konzil zwischen 1962 und 1965 den Anstoß zu einer inneren Erneuerung der katholischen Kirche gegeben hatte. »Wir wollten das Christsein als Laien ernst nehmen.«
Schüler eines feinen römischen Altstadt-Gymnasiums, des Liceo Virgilio, waren es, die 1968 die Gemeinschaft gründeten. Ihr Anführer Andrea Riccardi, 1949 geboren und heute Professor für Geschichte des Christentums in Rom, ist ein ungezwungener, offener Mensch, für den »unser Leben als Christen eine Reise in die Gegenwart« ist und in dessen Augen niemand, auch nicht die Comunità di Sant’ Egidio ein Monopol auf die alleinige Wahrheit besitzt. Ein liberaler, weltoffener Geist weht in dem Verband, der sich gleichwohl als integralen Bestandteil der katholischen Kirche ansieht und seit 1986 vom Vatikan auch als internationale Laienorganisation anerkannt ist.
Es hat auch den Gründer Riccardi überrascht, dass aus der Urzelle am Gymnasium Virgilio inzwischen eine Gemeinschaft von etwa fünfzehntausend Menschen geworden ist, davon achttausend in Rom, fünftausend in anderen Orten Italiens und rund zweitausend in anderen Ländern auf allen Kontinenten. Auch in Deutschland gibt es Égidius-Gruppen, die größte arbeitet in Würzburg und trifft sich jeden Abend in der Marienkapelle am Marktplatz. Der Ausdehnung lag keine Strategie zugrunde, Andrea Riccardi hat keine andere Erklärung dafür, als dass es ein Bedürfnis danach gegeben habe.
Auch die quasi diplomatische Tätigkeit, die die Gruppe in den vergangenen Jahren entfaltet hat, war offenkundig so beschaffen, dass sie auf große Nachfrage stieß. Seit vielen Jahren schon steht die Gemeinschaft von Sant’ Egidio im Dialog mit führenden Vertretern anderer Religionen, Moslems ebenso wie Juden oder orthodoxen Christen. Seit mehr als einem Jahrzehnt organisiert sie auch internationale Friedensgebete an verschiedenen Orten und schuf damit eine Plattform für vielfältige persönliche Begegnungen zwischen Angehörigen verschiedenster Kulturen. Seit Langem leisten Mitglieder der Gemeinschaft auch Hilfe in Ländern der Dritten Welt. Die Solidarität mit den Armen erfährt so ihre schlüssige Verlängerung in der Solidarität mit den armen Völkern, wie Riccardi sagt.
Aus derlei Kontakten bahnten sich Gespräche an, die Anfang der achtziger Jahre eine
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