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Lesereise Schottland

Lesereise Schottland

Titel: Lesereise Schottland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Sotscheck
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Abteile sind winzig, die Etagenbetten aber bequem, wenn man nicht besonders groß ist. Der »Western Highlander«, wie der Nachtzug offiziell heißt, fährt abends um halb neun vom Londoner Bahnhof Euston ab und kommt zwölf Stunden später in Fort William an. Sein Spitzname lautet »Hirschjäger-Express«, weil er von den schottischen Lords und Unterhausabgeordneten am Wochenende für Heimatbesuche genutzt wird.
    Eigentlich hätte der Schlafwagenzug für immer eingemottet werden sollen, wenn es nach der Eisenbahngesellschaft British Rail gegangen wäre. Man wollte das Eisenbahnnetz ausdünnen und die unrentablen Strecken dichtmachen, um die Staatsbahn für die Privatisierung flottzukriegen. Jedes Ticket müsse mit umgerechnet mehr als fünfhundert Euro subventioniert werden, behauptete British Rail. Stimmt nicht, widersprachen die »London Friends of the West Highland Line«, eine Bürgerinitiative zur Rettung der Strecke: In Wirklichkeit liege die Zahl bei fünfzig Euro – das ist etwa genauso viel, wie die Königliche Oper an Zuschüssen pro Sitzplatz kassiere.
    Nach Arrochar führt die Eisenbahnstrecke zum Loch Lomond, dem größten Binnensee Großbritanniens, und läuft für die nächsten vierzig Kilometer am Ufer entlang. Der See hat dreißig Inseln, darunter Inchmurrin mit den Ruinen des Lennox Castle. Inchmurrin und eine weitere Insel, Inchclonaig, wurden früher dazu benutzt, Alkoholiker und Geisteskranke zu isolieren. Am Ende des Loch Lomond, hinter Ardlui, geht es bis Crianlarich wieder bergauf. Hier teilt sich die Strecke: Richtung Westen gelangt man nach Oban, nördlich führt die Strecke weiter nach Fort William. »Früher sah man Crianlarich als Grenze der Zivilisation an«, heißt es in einem Eisenbahnführer von 1894, dem Jahr, als der Bahnhof eröffnet wurde. Das Originalgebäude steht nicht mehr, es brannte im März 1962 ab. Auch die früher bei den Reisenden so beliebten Picknickkörbchen, die auf dem Bahnsteig verkauft wurden, gehören der Vergangenheit an, seit in den zwanziger Jahren Speisewagen an den Zug gehängt wurden.
    In Crianlarich steigt eine Wandergruppe aus: fünf Mädchen, zwei Jungen und der erwachsene Gruppenleiter. Alle tragen Wanderstiefel und graue Wollkniestrümpfe. Vom Bahnhof führt ein Fußweg zum »West Highland Way«, einer Wanderstrecke von Glasgow nach Fort William, die bis zum zwanzig Kilometer nördlich gelegenen Bridge of Orchy parallel zur Eisenbahnlinie verläuft. Danach führt der Wanderweg nordwestlich durch die Berge nach Fort William, während die Bahn einen achtzig Kilometer langen Bogen durch das Moor von Rannoch im Norden schlägt. Zwischen dem Fluss Orchy und der Bahnstrecke kann man einen riesigen Findlingsstein sehen. Laut Überlieferungen soll ein kräftiger junger Mann vom clan der MacGregors versucht haben, den Stein vom Gipfel des Ben Doran quer über das Tal zum Hügel auf der gegenüberliegenden Seite zu werfen, was ihm nicht ganz gelang.
    Das dreißig Kilometer breite Hochmoor beginnt bei Garton, dessen Bahnhof nicht mehr in Betrieb ist. Ein alter Eisenbahnwaggon auf einem Abstellgleis diente früher als Schule für die Eisenbahnerkinder. Die Moorlandschaft, die sich bis zu den schneebedeckten Grampians am Horizont hinzieht, ist von faszinierender Eintönigkeit. Mitten hindurch führt ein schmaler Pfad nach Kingshouse, wo er auf den West Highland Way trifft. Schilder warnen davor, vom Pfad abzuweichen: Viele Menschen sind im Moor verschwunden, vor allem am Anfang des Jahrhunderts, als in Kinlochleven ein Aluminiumschmelzofen gebaut wurde und mancher Bauarbeiter eine Abkürzung durchs Moor nehmen wollte. Rannoch Moor ist übrigens der Schauplatz von Robert Louis Stevensons Roman »Kidnapped«.
    Der Bahnhof Rannoch und das benachbarte Hotel – der ehemalige Bahnhof – sind die einzigen Gebäude weit und breit. Der Zug hält kurz an, doch niemand steigt ein oder aus. Als die Gleise vor hundert Jahren hier verlegt wurden, mussten Tonnen von Sand und Schotter herangeschafft werden, sonst hätten die Schienen auf dem weichen Boden keinen Halt gehabt. Nördlich vom Bahnhof führt die Strecke über einen Stahlviadukt mit neun Pfeilern, die längste Brücke bis Fort William, bevor sie scharf nach Nordwesten abbiegt und den Cruach Hill hinaufsteigt. Damit die Bahn auch im Winter verkehren kann, sind die Gleise an dieser Stelle von einem Schneefang überdacht. Am Gipfel liegt Corrour, mehr eine Haltestelle als ein Bahnhof – mit vierhundertdreißig Metern

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