Lesereise Schottland
Camas Sgiotaig heißt der Strand, an dem das Meer im Laufe der Jahrhunderte richtige Sandsteinskulpturen geschaffen hat. Wenn man auf den trockenen Sand tritt, macht er ein eigenartiges Geräusch. Das sind die Stimmen der Ertrunkenen, sagen die Einheimischen.
Von den christlichen Kirchen ist die Insel immer vernachlässigt worden. Außer von Donnan, aber der war ja auch heilig. Einmal in der Woche kommt ein katholischer Pfarrer vom Festland und hält die Messe. Südwestwind und Regen haben dem fast hundert Jahre alten Gotteshaus an der Bucht von Laig stark zugesetzt. Im Glockenturm hängt ein leerer Haken, das angebaute Pfarrhaus ist nur noch eine Ruine. Die protestantische Kirche an der Straße ist fünfzig Jahre älter, aber besser in Schuss. Sie ist innen mit Holz verkleidet, hat Gaslicht und eine Heizspirale hinten an der Wand. Der Pfarrer kommt im Sommer monatlich von Arisaig herüber, im Winter je nach Wetterlage.
Neben der Kirche wohnt Christopher Tiarks, der Inseldoktor. Am Eingang zur Praxis hängt ein Schild: »Gummistiefel bitte ausziehen.« Tiarks ist nicht nur für Eigg zuständig, sondern auch für die drei anderen kleinen Inseln. Im Sprechzimmer stapelt er seine Patientenkartei in vier Pappkartons mit weißen Aufklebern: Eigg, Rum, Muck, Canna. Er betreut hundertfünfzig Patienten, einmal in der Woche fährt er mit seinem Motorboot zu den anderen Inseln zur Sprechstunde. Tiarks träumt von einer Videoverbindung zwischen den Inseln: »Das würde mir Ferndiagnosen erleichtern.«
Der Doktor kommt aus Lancashire, seine Vorfahren stammen aus Schleswig-Holstein. Dass er Engländer ist, stört seine Patienten nicht: »Sie sehen dich ja nicht als Person, sondern als Dienstleistung.« Zwei Jahre will er noch so weitermachen, dann ist Schluss: »Deine Fähigkeiten rosten auf einer kleinen Insel ein. Nach fünf Jahren bist du gefährlich, nach zehn Jahren tödlich.« Und er möchte auch mal wieder ein Glas Wein trinken. Seit er auf Eigg ist, hat er darauf verzichtet, denn er ist immer im Dienst. Bei den ceilis, den Tanzveranstaltungen, die an den Wochenenden reihum in den Privathäusern abgehalten werden, wollen sie alle mit ihm anstoßen. »Aber wenn sie dann auf dem Nachhauseweg betrunken aus ihrem Landrover fallen«, sagt er, »dann erwarten sie, dass ich nüchtern bin, damit ich sie wieder zusammennähen kann.«
Als das Telefon klingelt, hebt der Doktor ab und meldet sich. Es ist Marie Carr, ihr jüngster Sohn hat Windpocken. Morgen werden sie die Schule vorsichtshalber für ein paar Tage schließen.
»Das Öl schwimmt oben, die Fische schwimmen unten«
»Die Politiker reden dauernd davon, dass wir Glück haben, weil das norwegische Leichtöl vor der Shetlandküste angeblich von der Natur selbst abgebaut wird«, sagt Michael Flynn. »Das sollen sie mal den Vögeln erzählen, die ständig angespült werden.« Der etwa dreißigjährige Flynn arbeitet ehrenamtlich für die »Schottische Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Vögeln« ( SSPCB ).
Seitdem der unter liberianischer Flagge fahrende US -Tanker »Braer« mit vierundachtzigtausendfünfhundert Tonnen Rohöl an Bord wegen Maschinenschadens an der Südspitze der Shetlandhauptinsel Mainland auf einen Felsen aufgelaufen und leckgeschlagen ist, versucht die SSPCB , von dem international bedeutenden Vogelparadies auf den Shetlands zu retten, was zu retten ist. Bereits drei Jahre zuvor hatte die SSPCB gemeinsam mit Umweltschutzorganisationen, der Bezirksverwaltung und der Ölindustrie einen Koordinationsausschuss gegründet, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. »Wir müssen praktisch denken und mit der Ölindustrie zusammenarbeiten«, sagt Flynn. »Es gibt sie nun mal, und ich sehe nicht ein, warum wir von ihr kein Geld für unsere Arbeit nehmen sollen. Das heißt ja nicht, dass wir gutheißen, was sie tut.«
Die Ölfirmen, die bei Sullom Voe im Norden Mainlands das größte Ölterminal Europas gebaut haben, sind an guten Beziehungen zur Bevölkerung interessiert. So helfen sie mit ihren technischen Geräten, Fahrzeugen und Hubschraubern auch mal, wenn sich ein Schaf auf den Klippen verirrt hat. »Es nützt ihrem Image«, sagt Flynn. »Und gerade jetzt brauchen wir jede Hilfe, die wir bekommen können. Es geht ja nicht nur um die Vögel. Wir kümmern uns um alle Tiere, die in Not sind. Das erwartet die Bevölkerung von uns. Wir haben inzwischen einen Hilferuf von den Lachsfarmern weiter nördlich erhalten. Ob wir ihnen helfen können,
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