Lesereise Schottland
nordirischen Fischerboots »Stephens« behauptet, sie habe bereits kurz vor Mitternacht einen Tanker in der Nähe der Stelle gesehen, an der die »Braer« angeblich erst mehr als fünf Stunden später mit Maschinenschaden liegenblieb. Außer der »Braer« war in dieser Nacht jedoch kein Tanker in der Gegend unterwegs. Alexandros Gillis, der griechische Tankerkapitän, beschuldigt dagegen die Küstenwache, auf seinen Hilferuf viel zu spät reagiert zu haben. Die Schuldfrage ist Gegenstand einer Untersuchung, die auf den Shetlands durchgeführt werden soll.
»Schadensersatz nützt uns nichts«, sagt Pottinger. »Uns ist über Nacht die Lebensgrundlage entzogen worden, und das kann niemand wiedergutmachen.« Er glaubt nicht, dass die Schwimmbarrieren, die das Öl absorbieren sollen, die Katastrophe verhindern können. »Wir werden dennoch versuchen, sie morgen auszulegen, weil die Versicherung das verlangt. Warum fährst du nicht mit?« Er breitet eine detaillierte Landkarte auf dem Billardtisch aus und zeichnet die Stelle fast an der Spitze der Whiteness-Halbinsel ein, an der sein Boot liegt.
Am nächsten Morgen hat sich der Sturm noch immer nicht gelegt. Die Bergungsmannschaften sind nach wie vor zum Nichtstun verurteilt. Pottinger und seine vier Mitarbeiter sitzen in einem kleinen Wohnwagen am Ufer der Whiteness-Bucht und kochen Kaffee. Neben dem Wohnwagen am Fuß der Klippen steht ein Geräteschuppen, hinter dem Dutzende von blauen Plastikfässern mit Fischfutter gestapelt sind. Nach einer halben Stunde entschließen sich die Männer, zu den Lachskäfigen in der Bucht zu fahren. Man kann das Öl bereits riechen, es soll schon kurz vor der Bucht angekommen sein. Die acht Käfige, die etwa hundertfünfzig Meter tiefer in der Bucht liegen, sind noch in Ordnung. Sie sind jeweils etwa zehn mal zehn Meter groß und durch schmale Laufstege aus Metall miteinander verbunden. Über die Käfige sind Netze gespannt, die verhindern sollen, dass die Lachse in die Freiheit springen. Pottinger inspiziert die Lage kurz, wendet dann das Boot und steuert in Richtung Meer, wo weitere zwölf Käfige verankert sind.
Der Sturm fegt das Wasser über die Reling, das kleine Boot schaukelt so stark auf den Wellen, dass man sich mit beiden Händen festklammern muss. Schon von Weitem sieht man am Ufer die Trümmer der beiden Käfige. Die übrigen zehn Käfige sind vom Wind hundert Meter weit in die Mitte der Bucht getrieben worden. »Da hängen zwei Anker dran, die je eine halbe Tonne wiegen«, sagt Pottinger. Als die Sonne für einen kurzen Augenblick hervorkommt, schillert das Wasser wie ein Regenbogen. Das Öl ist in der Bucht angekommen. Noch ist es lediglich ein dünner Film, der auf dem Wasser schwimmt. Lord Caithness, der britische Staatssekretär für Schifffahrt, hat das Problem am Vortag heruntergespielt: »Das Öl schwimmt oben, und die Fische schwimmen unten«, hat er gesagt. »Da kann eigentlich nicht viel passieren.« Pottinger hebt resignierend die Schultern: »Und das sind die Leute, die dieses Land regieren.«
An der anderen Seite der Käfige hat inzwischen ein weiteres Boot angelegt. Die Besatzung des »Skimmer Dim« will dabei helfen, neue Anker zu befestigen. »Wir wissen nicht, wie die Käfige unten aussehen«, sagt Pottinger. »Bei dem Wetter kann man keinen Taucher runterschicken.« Nachdem er mit seinen Leuten eine halbe Stunde lang die Schäden notdürftig repariert hat, bricht er die Aktion ab. Der Sturm hat weiter zugenommen, die Laufstege schwanken bedrohlich. »Es hat keinen Sinn, die Schwimmbarrieren anzubringen«, sagt er. »Der Wind würde das Öl darüber hinwegdrücken.«
Auf der kurzen Rückfahrt zum Ufer steht Pottinger schweigend am Steuerrad. Als wir anlegen, sagt er niedergeschlagen: »Norwegischer Lachs wird jetzt teurer werden. Irgendjemand profitiert immer von einer Katastrophe.«
Mit dem Hirschjäger-Express ins Hochland
Als es draußen langsam hell wird, ist der Zug schon weit hinter Glasgow. Bei Garelochhead steigen die Gleise steil an, das Meer entzieht sich langsam dem Blick: Das schottische Hochland beginnt. Plötzlich legt sich der Zug in einer lang gezogenen Kurve ein wenig auf die linke Seite, sodass man durch das Fenster tief ins Tal auf den Loch Long blickt. Auf dem See schippern ein paar Ausflugsboote, die meisten liegen jetzt in der Vorsaison jedoch noch vertäut im Hafen von Arrochar.
Der Schlafwagenschaffner serviert dünnen Kaffee und ein Hörnchen mit Butter und Marmelade. Die
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