Lesereise - Schweden
mich für Architektur interessiere und einen besonders schönen Bau sehen wolle, müsse ich weiter zum alten Herrenhaus von Häckeberga radeln. Ich verspreche es ihr – das Anwesen liegt ohnehin auf meinem Weg.
Ich verabschiede mich von Lena Anderson, steige auf mein Rad und fahre weiter. Die Straßen in Schonen werden nicht mit dem Lineal gezogen. Sie verlaufen so, wie es die Natur und die Grundstücksgrenzen zulassen. Wie Flussläufe mäandern sie durch die Landschaft, knicken urplötzlich ab und führen ein paar Hundert Meter in die Richtung zurück, aus der sie gekommen sind – so, als hätten sie etwas vergessen. Das haben sie aber nicht: Hier hat nur alles mehr Zeit und Muße. Die Dame von der Post, und die Straßen auch.
In Häckeberga erfahre ich, dass ich nicht nur auf den Spuren Nils Holgerssons unterwegs bin, sondern auch auf denen eines anderen großen Schweden: Carl von Linné, der Botaniker, nach dessen System alle Pflanzen dieser Welt benannt sind, war im Juli 1749 hier zu Gast. Darauf verweisen die heutigen Besitzer des Herrenhauses gerne, denn Linné hat Häckeberga als eines der schönsten Anwesen bezeichnet, das ihm auf seiner Reise durch Schonen begegnet ist. Auf einer Halbinsel liegt es. Direkt am See. Da kann man schon ins Schwärmen geraten. Lena Anderson und der berühmte Carl von Linné haben offenbar den gleichen Geschmack. Obwohl: Exakt dasselbe Gebäude haben beide nie gesehen. Denn das Haus im Stil der französischen Renaissance, an dem die Dame von der Post Tag für Tag vorbeifährt, ist ein Umbau, der erst nach Linnés Zeiten entstand.
Wie Nils Holgersson zieht es auch mich immer weiter. Assartorp, Damshög und Elinedal sind meine nächsten Stationen – Orte, die keine sind. Auf den Schildern am Wegesrand stehen zwar die Namen, die dazugehörigen Häuser aber fehlen. Die liegen irgendwo weit abseits der Straße, in der Mitte eines Feldes, am Waldrand oder am Ufer des nächsten Sees. Ich radle noch an einigen weiteren Schlössern vorbei, nicht umsonst heißt der Weg, auf dem ich unterwegs bin, Schlösser-Route. Stattlich sehen sie aus, die steinernen Zeugen einer vergangenen Zeit. Anfangs zücke ich noch meine Kamera und informiere mich über Baustil und Geschichte in meinem Reiseführer. Bald lasse ich aber Buch und Fotoapparat beiseite. Eine Gegend wie diese lässt sich nicht dokumentieren, nur erspüren.
Dann höre ich Vogellärm über mir. Ich blicke nach oben: Graugänse auf ihrer Reise. Nils Holgersson kann ich auf ihren Rücken nicht erkennen. Aber der ist auch nur daumengroß, und ich bin überzeugt: Irgendwo hält er sich im Gefieder eines der Vögel fest. Ich wünsche ihm eine gute Reise.
Eine Lesbe, bitte
In der Bibliothek von Malmö kann man Menschen ausleihen
»Eine Lesbe, bitte.«
»Tut mir leid, die ist ausgeliehen. Aber wie wäre es stattdessen mit einem Transvestiten, einem Imam oder einem Sinto?«
Menschenhandel in Schweden? Nein! Aber Sätze wie diese kann man an bestimmten Tagen in der Stadtbibliothek von Malmö hören. Denn die verleiht ein paar Mal im Jahr »lebende Bücher«.
»Lebende Bücher?«, frage ich. »Ja, Menschen, die einer Minderheit angehören«, erklärt mir Catharina Norén. Man kann sie »ausleihen«, sich mit ihnen unterhalten und so seine Vorurteile bekämpfen. »Rede nicht über dein Vorurteil, sondern triff es – und werde es dadurch los«, lautet der Slogan der Aktion.
Catharina Norén, eine freundliche ältere Dame mit schlohweißem Haar, hat sich mit einigen ihrer Kollegen aus der Bibliothek zusammengetan, um gegen die Diskriminierung von Minderheiten zu kämpfen. Dafür ist Malmö der geeignete Ort – jeder vierte Einwohner ist Ausländer. Es gibt ganze Stadtteile, in denen kaum ein Schwede lebt. Ghettobildung mit allen damit verbundenen Auswirkungen ist die Folge: mangelnde Sprachkenntnisse, Arbeitslosigkeit, eine hohe Kriminalitätsrate und das Gefühl sozialer Isolation.
Entsprechend groß sind die Vorurteile gegen die jeweils andere Gruppe. Im Vergleich zu Deutschland sind rechtsradikale Ausschreitungen zwar selten. Aber auch in Schweden gibt es Neonazis. Auch dort brannten Ausländerheime. Und: Einige Städte haben sich schon geweigert, Flüchtlinge aufzunehmen.
Vor einigen Jahren befragte die Stadt Malmö alle, die aus dem Zentrum ins Umland zogen, nach ihren Beweggründen. Die Regionalzeitung Sydsvenskan veröffentlichte das bedrückende Ergebnis. Die gängige Antwort lautete: »Zu viele Ausländer.«
Einer schrieb,
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