Lesereise - Schweden
er beobachte »immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Schweden und Ausländern. Ich habe Angst, durch die Stadt zu gehen.« Eine Frau: »Ich bin keine Rassistin, aber es leben so viele Ausländer hier, dass ich mich unsicher fühle. Meine Freunde sagen mir zwar, meine Angst rühre daher, dass ich selbst keine Fremden kenne. Aber wo soll ich als Mutter von zwei Kindern denn Ausländer treffen?«
In der Tat, es ist schwer, »den Anderen« kennenzulernen. Vielerorts sind die Gräben schon zu tief, die Mauern zu hoch. Man bleibt mit seinen Vorurteilen lieber unter sich.
Dieses Problem hat Catharina Norén erkannt. »Meist fürchtet man sich doch vor Dingen, die man nicht kennt«, sagt sie, »deswegen misstraut man auch Menschen eines anderen Kulturkreises.« Ganz rar sind diese Kontakte zwischen gebürtigen Schweden und Zuwanderern der älteren Generation. Die Konsequenz für Norén: Sie wollte Menschen zusammenbringen, die einander im täglichen Leben nicht begegnen.
Norén ist Bibliothekarin, doch der Anstoß zu der Ausleihaktion kam von außen. Schon im Jahr 2000 beim Rockfestival im dänischen Roskilde gab es ein ähnliches Projekt, und dann später noch einige Male in Ungarn und Norwegen.
Die Idee, Menschen so zu verleihen wie Bücher, gefiel Norén natürlich. Ausleihaktionen zu organisieren – damit kannte sie sich aus. »Viele Regeln kann ich tatsächlich aus dem normalen Bibliotheksbetrieb übernehmen«, so Norén, die über die Analogie selbst lachen muss. Wie in einer normalen Bücherei hat der Leser sein Buch in demselben Zustand zurückzugeben, in dem er es erhalten hat. Keine Eselsohren und ausgerissenen Seiten in dem einen Fall, keine Beleidigungen oder aggressiven Fragen im anderen. Beschränkt ist die Ausleihfrist bei beiden, beim »lebenden Buch« ist sie allerdings deutlich kürzer als bei der Leihgabe aus Papier: Nach einer Dreiviertelstunde muss das »Buch« wieder im »Regal« stehen.
Nachdem also die Regeln feststanden, suchte Norén Leute, die bei der Aktion mitmachen wollten. »Das war viel leichter als gedacht«, blickt sie zurück. »Egal wo ich anfragte, alle waren von der Idee begeistert. Fast jeder, den ich bat, sich als lebendes Buch zur Verfügung zu stellen, sagte Ja.« Die imaginären Regale der »Menschenbibliothek« waren schnell gefüllt.
Die erste Ausleihaktion fand im Rahmen des Stadtfestes statt – und war ein voller Erfolg. Für manche begehrte »Ausleihobjekte« gab es sogar Wartelisten. Besonders gefragt waren der Imam und die muslimische Frau. Wen man sonst noch ausleihen konnte, will ich von Norén wissen. Sie überlegt kurz und zählt auf: »Eine Lesbe, einen Transvestiten, einen Behinderten, einen Obdachlosen, einen Tierrechtsaktivisten, eine Feministin, einen Farbigen, einen Rom, einen Sinto, einen ehemaligen Strafgefangenen, einen Dänen und einen Türsteher.«
Letztgenannter wurde allerdings wenig ausgeliehen. Er war wohl nicht exotisch genug, denn in Skandinavien steht vor fast jedem Lokal ein solcher Muskelprotz. Durchaus gefragt war hingegen der Däne. Für uns mag das überraschend sein, denn wir machen kaum einen Unterschied zwischen Schweden, Dänen oder Norwegern. Im Norden sieht man das ganz anders. Die Länder haben eine lange gemeinsame und nicht immer konfliktfreie Geschichte hinter sich. Im Laufe der Jahrhunderte ist so eine innige Hassliebe entstanden. Und so möchte mancher Schwede einfach mal wissen, wie der Nachbar aus Dänemark so tickt.
Am Dänen war Familie Christensen nicht interessiert, die kommt nämlich selbst aus Dänemark und war am Tag der Ausleihaktion nur zufällig in Malmö. Vater Paul, Mutter Lise, die dreizehnjährige Lena und der achtjährige Henrik liehen sich den Obdachlosen aus. »Ganz ehrlich«, wundert sich Paul über sein eigenes Vorurteil, »ich hatte nicht gedacht, dass man sich mit einem Obdachlosen so ganz normal über alles unterhalten kann.«
Viele Familien machten es wie die Christensens und liehen sich zusammen ein »Buch« aus. Oft waren dann die Kinder neugieriger als die Erwachsenen. Sie nähern sich Fremden noch ohne Scheu und finden Unbekanntes spannend. Ein kleiner elfjähriger Junge gab, nachdem er sich eine Dreiviertelstunde angeregt mit der Muslimin unterhalten hatte, zu Protokoll: »Es war viel schöner, als ein richtiges Buch zu lesen.« Seine Aussage ist neben anderen auf einem zehnseitigen, eng bedruckten Computerausdruck nachzulesen. Nach ihrer Meinung befragt wurden sowohl die »Bücher« als auch
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