Lesereise Schweiz
Heiligen Antonius oder Wendelin um Schutz und Hilfe anriefen und diesen, wenn sie gewährt worden waren, auf der anderen Seite dafür dankten. Erst 1738 gelang der Bau zweier Bogenbrücken. Von da an wurde die Viamala regelmäßig benutzt. Um 1820 wurde der Saumweg zur Fahrstraße ausgebaut.
Der Via-Spluga-Wegweiser führt zum Hinterrhein, wo eine hochmoderne Spannbandkonstruktion Wanderern die Überquerung des reißenden Flusses erlaubt und über einen Waldweg nach Reischen bringt, einem kleinen Dorf mit Logenplatz über der Wiesenlandschaft des Schamsertals. Unten liegt die alte Saumtierwechselstation Zillis. Die Alpenroute mag versiegt sein, das Dreihundertfünfzig-Seelen-Dorf ist ein Pilgerziel geblieben. Wegen der weltberühmten vollständig bemalten Holzdecke von St. Martin rennen die Besucher Pfarrerin Marianna Iberg die romanische Bude ein, rund zweihundertfünfzigtausend im Jahr. Spiegel zur Genickstarre-freien Deckenbewunderung liegen in der Kirche aus. Es lohnt, sich für die hundertdreiundfünfzig kunstvollen Bildtafeln, auf denen das Leben Christi erzählt wird, reichlich Zeit zu nehmen. Denn hier im Hause des Soldatenheiligen helfen sie, die Religiosität des Mittelalters und den Mythos der Via Spluga zu verstehen.
Nach Zillis war Andeer auf neunhundertzweiundachtzig Metern die nächste Wechselstation. Da die Viamala 1473 sicherer wurde, begann der Fernverkehr langsam zu florieren. Waren wie Getreide, Reis, Salz, Früchte, Weine, Häute und Leder, Seide, Damast, Silberwaren, Werkzeuge und Rüstungen, Farbstoffe und Öl wechselten etappenweise die Transporteure. Die Säumer, wie diese Grenzhändler hießen – und die eigentlich hauptberuflich Bauern waren –, schlossen sich zu »Porten« zusammen, Genossenschaften, die für bestimmte Strecken das Transportmonopol besaßen, Ställe wie Warenlager, sogenannte »Susten«, unterhielten.
Auch in Andeer. Vom gut organisierten Fuhr- und Saumwesen vergangener Zeiten zeugen die prächtigen Palazzi, die sich fast lückenlos entlang der Veia Granda, der gepflasterten Hauptstraße, durch das Dorf ziehen. Der wohl schönste Stadtpalast, das Haus Padrun von 1500, prahlt mit reicher Sgraffito-Malerei, die für die Bündner Gegend so typisch ist: Auf einem weiß gekalkten, rohem Grundputz wurden Tier- und Pflanzenmotive herausgekratzt. Auch Schlösschen Clopath, Haus Conrad oder Haus Nicca erzählen vom Wohlstand der Speditionsunternehmer.
»Bun gi!«, rufen zwei Andeerer Damen mit Brötchentüten im Arm dem frühen Wanderer zu, was auf Rätoromanisch »Guten Morgen« heißt. Gern zeigen sie am Dorfbrunnen die Via-Spluga-Schilder zur Rofflaschlucht, der kleinen Schwester der Viamala, die allerdings nie begangen wurde. Die alten Pfade sind nun weitgehend verschüttet, so dass der Wanderer auf dem Weg zu einer der höchst gelegenen Alpensiedlungen auf vierzehnhundertfünfundsiebzig Metern dem modernen Verkehr nicht immer ausweichen kann. Wilde, romantische Passagen fehlen beim Aufstieg nach Splügen trotzdem nicht. Das Dorf, das dem bedeutenden Pass den Namen gab, ist der letzte Halt vor der Grenze nach Italien. 1716 brannte es fast völlig nieder, doch die Spuren des Transitverkehrs sind so gut erkennbar wie an kaum einem anderen Ort. Mächtige mehrstöckige Patrizierhäuser prägen den alten Dorfkern um den Sustenbach. Sie werden auch »Schorschhäuser« genannt, weil sie den einflussreichen Familien der Schorsch’, Albertinis und Zojas gehörten. Gegen diese Giganten aus Stein nehmen sich die sonnenverbrannten Holzhäuser der Walser sehr bescheiden aus, sind aber ein optisches i-Tüpfelchen. Die Walserhäuser wurden von aus dem Wallis eingewanderten Kolonisten und Soldaten gebaut, die entlang der Wegstrecke Arbeit gefunden hatten.
Die Blütezeit der Splügenroute setzte gegen 1650 ein. Um 1700 gingen gut sechstausend Saumlasten pro Jahr über den Pass – eine Saumlast bedeutete pro Pferd eine Gewicht von hundertfünfzig Kilogramm. Fünfzig Jahre später waren es bereits dreißigtausend Saumlasten, also gut das Fünffache. Die Zojas fingen 1720 damit an, das schon für damalige Verhältnisse kolossale »Bodenhaus«, eine Art Lager, dem moderner werdenden Verkehr entsprechend zum »Posthotel« umzuwandeln. Da das Reisen bei immer mehr betuchten Leuten in Mode kam, stellten sie sich auch auf adlige Gäste ein. Um 1800 zählte Splügen zehn Gasthäuser, doppelt so viele wie heute. 1859 erreichte der Warenumschlag mit siebenundzwanzigtausendeinhundert Tonnen den
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