Lesereise Schweiz
für alle heiße Gerstensuppe, selbstgemachten Käse und naturgetrocknetes Bündnerfleisch auf den Tisch stellt.
Das gepökelte, kräftig gewürzte Rindfleisch fehlt in keinem typisch schweizerischen Restaurant. Bündnerfleisch ist eine geografische Herkunftsbezeichnung und Graubünden die Domäne des Trockenfleischs: eine geschützte Marke. Sie garantiert, dass das Fleisch ausschließlich auf dem Gebiet des helvetischen Kantons verarbeitet und veredelt wurde. Allerdings hat die moderne, schnelllebige Zeit auch die hundertfünfzig Graubündner Täler erreicht, so dass Naturtrocknereien, die nach traditioneller Art arbeiten, selten geworden sind. Den Massenbedarf deckt freilich die industrielle Fertigung.
Die älteste der Naturtrocknereien befindet sich im Churwaldnertal. Die kühlen Luftzüge, die der winterliche Föhn durch das Tal mit Nord-Süd-Öffnung treibt, und die Höhenlage ab tausend Metern, auf der fast ein halbes Jahr lang Schnee liegt, bieten dafür ideale Voraussetzungen. Das kleine Bergdorf Parpan erfüllt diese geografisch-klimatischen Bedingungen optimal. Schon um 1892 arbeitete hier Bauer Brügger als »Lohntrockner«, der die natürliche Konservierungsmethode beherrschte. Die Alpsennen aus der ganzen Gegend kamen in Brüggers Hütte bei Lenzerheide und ließen sich von ihm ihr Fleisch trocknen, um gut über den Winter zu kommen. Brüggers Sohn Engelhard gründete 1925 die erste professionelle Fleischtrocknerei mit eigenem Fleisch. Sorgfältig wählte er den Bauplatz auf fünfzehnhundert Höhenmetern aus, an dem ein Bach vorbeifließt. Denn wo Wasser fließt, sind auch Luftzug und Kühle. Gen Süden pflanzte er einen Schutzschild gegen die Sonne aus mittlerweile ausgewachsenen Föhren. Die Brüggers trocknen Fleisch in vierter Generation.
Beim Öffnen der Ladentür umfängt den Ankömmling sofort der Duft des würzigen Fleisches. Jörg Brügger betreibt die Naturlufttrocknerei seit 1992, stellt »Echtes Bündnerfleisch« her und verfeinert es nach alten Familienrezepten. »Wir nehmen nur das Edelfleisch von unseren guten Schweizer Rindern, Muskelfleisch ohne Sehnen und Fett, also die Eckstücke, die Unterspälte«, erklärt der gelernte Metzger und taucht hastig wieder in die frostige Welt der Fleischtrocknerei ab.
Die Temperaturen liegen auf Kühlhausniveau – nichts für verweichlichte Naturen. Brügger arbeitet zügig, eine Angewohnheit, die ihn ganz nebenbei vor der Kälte schützt. Er schneidet die Fleischstücke zu, überzieht sie mit Netzen und stapelt sie in Bottichen, die um die siebenhundert Kilogramm Fleisch fassen. Vorher reibt er sie sorgfältig porentief mit Pökelsalz und Gewürzen ein. Die Zusammensetzung? »Das ist mein bestgehütetes Geheimnis«, lacht er und fügt hinzu, dass jeder Naturtrockner seine eigene Mischung hat. Je nach Größe ruht das Fleisch in den so genannten Staden zwischen sieben und fünfundzwanzig Tagen, nimmt dabei das Salz auf und gibt Saft ab. Danach wäscht Brügger die Stücke mit der Bürste unter laufendem Wasser.
»Jedes Stück Fleisch ist einzig in seiner Art«, sagt der Bündner, »und so muss man es auch behandeln.« Es ist die Einzelbehandlung, die das naturgetrocknete Bündnerfleisch so wertvoll macht. Das unterscheidet die Naturtrocknerei auch von der Fabrik, die zum Würzen meist Konzentrate verwendet und das Fleisch im Schnellverfahren in Klimaanlagen trocknet, oft in der Hälfte der Zeit. »Eine Naturtrocknerei betreibt man nicht wegen des Geldes«, sagt der Eidgenosse. Das Fleisch bestimmt, wie viel er arbeitet. Und das braucht ihn manchmal rund um die Uhr. »Vom Rohfleisch bis zum fertigen Bündnerfleisch nehmen wir jedes Stück etwa siebzig mal in die Hand«, rechnet Brügger vor, während er die gepökelten Fleischportionen zum Antrocknen auf den zugigen Balkon bringt. In Reih und Glied hängen da die Fleischnetze unter der Decke, je nach Wetter gut vier bis sieben Tage.
Bei ihm funktioniert nichts auf Knopfdruck. Zum Schluss kommt die sensibelste Phase des Naturtrocknens. Mit dem Öffnen und Schließen der Balkonfenster reguliert Brügger die Luftfeuchtigkeit, die zwischen achtundsiebzig und vierundachtzig Prozent liegen sollte. Da sind Fingerspitzengefühl und Erfahrung gefragt. Zu jeder Tageszeit sind Wind und Temperaturen unterschiedlich. Stehen die Fenster nur etwas zu lange offen, entwickelt sich am Fleisch schnell ein Trockenrand. Das Fleisch kapselt sich ab, hört auf, von innen zu trocknen, und ist nicht mehr zu gebrauchen.
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