Lesereise Schweiz
der Gesellschaft lebend, malten sie nicht, um ihr Werk später an einer Wand zu präsentieren oder womöglich zu verkaufen. Diese Künstler wollten sich nicht mitteilen. Sie realisierten ihre Eingebungen nur für sich selbst, ganz unabhängig vom gängigen Kunstbetrieb in Schulen, Kunstgalerien und Museen. »Auf diese Weise entstanden Werke von ureigenster Art, ohne jedes Zugeständnis an Traditionen und Moden«, erklärt Thévoz. Konzeption, Themen, Techniken und Materialien sind individuelle Ausdrucksformen.
Die Kollektion rüttelt an herkömmlichen Gewohnheiten und Normen. Ungefiltert sprechen die Gemälde an den Wänden von den Albträumen, Obsessionen und Neurosen ihrer Produzenten. Die Bilder wecken im Betrachter Befremden und erinnern gleichzeitig an etwas Vertrautes. »Das macht die Begegnung schon etwas unheimlich«, meint Thévoz. In den Werken lebt eine brennende innere Spannung, ein grenzenloser Erfindungsgeist scheint sich nach außen zu drängen. Die Schöpfungen offenbaren Empfindungen von völliger Losgelassenheit und totaler Freiheit. Der Betrachter reist durch diese Werke in ferne Innenwelten.
Die in Lausanne beheimatete Sammlung fand ihren Ausgangspunkt in Frankreich. Im Jahr 1947 begann der Pariser Maler Jean Dubuffet, die Gemälde zu sammeln. Selbst Kunstschaffender, hatte er für den »normalen« Kunstbetrieb nur Abneigung übrig: Er erschien ihm künstlich, elitär, eitel, ja vergiftet. Dubuffet sehnte sich nach ungeschminkter Wahrheit und kompromissloser Originalität. »Die Kunst legt sich nicht in gemachte Betten; sie läuft davon, sobald ihr Name ausgesprochen wird, denn sie schätzt das Inkognito. Am wohlsten fühlt sie sich, wenn sie vergessen hat, wie sie heißt.« Das war das zentrale Motto Dubuffets. Die wahren Helden der Kunst sah er nicht unter professionellen Künstlern, sondern unter den einfachen Menschen, »diesen Landstreichern, diesen eigensinnigen, selbstgesprächigen Hellsehern, die nicht ein Diplom, sondern einen Stock oder einen Hirtenstab schwingen«. Denn diese träumten nicht von einem großen Publikum oder gar akademischen Ehren, weshalb sie ihre künstlerische Entwicklung nicht verderben könnten. Während er bei anderen »normalen« Künstlern die Ausdruckskraft durch Schablonen erstickt sah, erkannte er sie bei den Art-brut-Künstlern als ungestüm, schwärmerisch – und natürlich.
Dubuffet begann, nach solchen Werken zu suchen. Bei seinen Nachforschungen kam der Künstler in die Heil- und Pflegeanstalt Waldau bei Lausanne, wo er auf Patientenzeichnungen stieß, die genau die von ihm gesuchte Kraft des Autodidakten besaßen. Als er 1971 die fünftausend Werke umfassende Sammlung der Stadt Lausanne schenkte, drang der Begriff »Art brut« in die Öffentlichkeit. Als einen »Akt der Freundschaft«, bezeichnete Dubuffet selber die Schenkung, auf die fünf Jahre später die Einweihung des Museums am Genfersee folgte. Ähnliche Art-brut-Sammlungen finden sich nur im Museum of Visionnary Art in Baltimore, im Museum of Folk Art in New York, im L’Aracine in Villeneuve d’Asq nahe Lille und im Stadshof Museum im niederländischen Zwolle.
Die Lausanner Sammlung umfasst dreißigtausend Werke und ist damit weltweit die größte ihrer Art. Fast die Hälfte der Arbeiten wurde von Insassen psychiatrischer Kliniken geschaffen, die als schizophren galten – Gemälde, Plastiken, Holzschnitzereien; viele aus der Schweiz, Deutschland, Holland, Frankreich und den USA . Thévoz hält die so genannten »psychisch« Kranken nicht für »krank«. »Sie sind nur sehr individuell ausgeprägt«, sagt er. Der Begriff der Geisteskrankheit treffe in keinem Fall. Da es sich um »Underground-Art« handelt, sozusagen »heimliche« Kunst, die von den Künstlern selbst oft versteckt wird, vergrößert sich der Bestand nicht durch Hinzukäufe bei Galerien. »Zu den meisten Werken kommen wir, indem Besucher uns auf die Künstler aufmerksam machen und wir mit ihnen persönlich Kontakt aufnehmen.«
In der Ausstellung werden rund siebenhundert Gemälde und Skulpturen präsentiert. Darunter sind die herausragenden Werke von Adolf Wölfli, Aloïse, Heinrich Anton Müller, Laure Pigeon und Jeanne Tripier. Viele von ihnen stammten aus elenden Verhältnissen, alle besaßen spannungsgeladene, tragische Lebensläufe. Den Berner Adolf Wölfli (1864–1930) hatte Dubuffet bereits in Waldau kennengelernt. Bevor Wölfli eingewiesen wurde, schlug er sich als Ziegenhirt, Knecht und Hilfsarbeiter durchs Leben.
Weitere Kostenlose Bücher