Lesereise Schweiz
Sitzkissen für das harte Holz dabei, Schirmmützen und Picknickkörbe. Männer, Frauen, Jugendliche und Familien belegen die Plätze. »Grüezi!«, »Salut!«, ist zu hören. Man kennt einander hier. Das Bergschwinget auf der Rigi, das über die »Wägsten und Besten« unter den Bärenstarken aus der Innerschweiz, der Südwestschweiz und dem Kanton Bern entscheidet, bringt mehrere Tausend Besucher auf die Beine. Denn das siebenhundert Jahre alte Sennen- und Hirtenspiel ist urnational: Schwingen rangiert in der Beliebtheit bei den Schweizern gleich nach Fußball und Skilaufen.
Mehr als hundert Schwinger treten an – allesamt Recken von bestimmt einem Meter achtzig und um die hundert Kilo schwer. Während das Schwingen früher ein Zeitvertreib der Bauern war, messen sich heute auch Handwerker, Kaufleute, Ingenieure und sogar Bänker auf dem Sägemehl. »Es gibt unter den Schwingern höchsten noch fünf Prozent Bauern«, meint Daniel von Euw, ein promovierter Agronom, aber »ohne blaues Blut«. Er misst einen Meter fünfundachtzig, bringt hundertzwölf Kilo auf die Waage und zählte zu den aktiven Spitzenschwingern, bevor er im Jahr 2008 Präsident des Eidgenössischen Schwingerverbandes wurde. Als Schreibtischarbeiter müsse man natürlich etwas häufiger trainieren, bekennt er. »Wer wirklich gut sein will, geht bis fünfmal die Woche zum Training«, sagt auch Martin Grab, der langjährige Publikumsliebling der Innerschweiz. Der Zwei-Meter-Mann, Jahrgang 1979, schwingt seit seinem elften Lebensjahr, wiegt hundertsiebzehn Kilo und kennt an die hundert Schwünge: »Man muss an die hundert Wurftechniken und Griffe beherrschen, um richtig angreifen und parieren zu können«, erklärt der mehrfache Schwingerkönig.
Das wichtigste Utensil ist die Schwinghose, eine kurze Überhose aus starkem Leinen und mit Ledergurt, wie sie schon seit 1794 verwendet wird. An den Oberschenkeln wird sie grifffest fast bis zur Hüfte zum Gestöss aufgekrempelt. Die hobbymäßigen Sennenschwinger sind am traditionell karierten Hemd und der langen dunklen Hose zu erkennen, die Turnerschwinger, die aktiv im Verein schwingen, am weißen Hemd und der weißen Hose. Eigentlich wären die breiten Sportlerrücken ideal für Namen wie Nestlé oder Credit Suisse. Doch Sponsorenwerbung ist verboten – alles läuft völlig unkommerziell ab.
Nach einer Art »Kraft-Gerechtigkeit« stellen die Kampfrichter für jeden der drei Spanplätze ein Kampfpaar auf. Die Schwinger geben einander die Hand – und damit das Versprechen, fair zu kämpfen. Sie stellen sich breitbeinig voreinander auf und beugen sich vor. Eine Hand greift in den Gurt am Gegnerrücken, die andere Hand ins Gestöss von dessen Schwinghose. »Los!«, ruft der Schiedsrichter. Und los geht die wilde Balgerei. Sägemehl spritzt, Beine fliegen, die Arme hintendrein. Gelb besprenkelt liegen die Athleten am Boden.
Jeder will den Gegner möglichst im Plattwurf auf den Rücken werfen, so dass er mit den Schulterblättern oder dem Gesäß im Sägemehl landet. Aber auch Kampfeslust entscheidet bei der Punktvergabe, korrektes und grifffestes Schwingen, Vielseitigkeit und Technik. Wer zu defensiv ist, wird verwarnt. Jeder Gang dauert fünf Minuten.
Plötzlich geht ein Rumoren durchs Publikum. Die Favoriten Martin Grab aus der Zentralschweiz und Roger Brügger aus dem Kanton Bern betreten das Gelb. Im Nu haben einander beide fest im Griff, sind kurz vorm Knoten ineinander verknäult und ihre Gesichter in die Knautschzone verrutscht. Behände befreit sich Grab, stellt ein Bein zwischen die Beine von Brügger, hebt ihn auf sein Knie, bringt ihn aus dem Gleichgewicht und schüttelt ihn ab. »Ein ›Churz‹!«, raunt Holzbank-Nachbar David, der selbst hobbyhalber schwingt. Doch Brügger greift wieder an, stellt blitzschnell sein rechtes Bein zwischen die Gegnerbeine, dreht, greift mit dem Arm über die Schulter in den Lendengurt, eine unmögliche Verrenkung, erwischt mit dem Fuß das gegnerische Bein und wirft ihn mit einem kräftigen Ruck kopfüber auf den Rücken. »Das war der ›Brienzer‹«, erklärt der Fachmann zur Rechten.
Ein neuer Angriff: Grab springt mit der Hüfte tief unter die von Brügger, fasst von oben ins Gestöss , zieht ihn mit Wucht hoch, schwingt ihn im Kreis – daher muss das Spiel seinen Namen haben –, beugt sich vor und wirft ihn mit einem Ruck kopfüber platt auf den Rücken. »Der ›Hüfter‹ ist der spektakulärste Wurf überhaupt«, begeistert sich David. Insgesamt
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