Lesereise Schweiz
gebe es mehr als hundert Schwünge, doch die häufigsten seien Kurz , Brienzer und Hüfter . Punktsieg für Grab. Der strahlende Sieger hilft dem Unterlegenen beim Aufstehen und putzt ihm das Sägemehl vom Rücken. Ein liebenswürdiges freundschaftliches Ritual.
Pause für die Schwinger. Jetzt steht das Unspunnen -Steinstoßen auf dem Programm, eine Disziplin aus dem bäuerlichen Rasenkraftsport, die noch älter als das Schwingen sein soll. Zwischen zwanzig und vierzig Kilo wiegt der Steinblock, der fuß- oder meterweit gestoßen wird. Der berühmteste Unspunnenstein, das Schweizer Symbol für Urkräfte, wog zweiundneunzig Kilo und wurde beim ersten Steinstoßwettbewerb 1805 bemerkenswerte zehn Fuß gestoßen. Danach verschwand der Stein auf ungeklärte Weise, tauchte aber irgendwann wieder auf. Seither hielt der Turnverein Interlaken den Unspunnenstein unter Verschluss. Trotzdem wurde der legendäre Granitbrocken am 20. August 2005 aus einer Ausstellung, am helllichten Tag und unter mysteriösen Umständen, erneut gestohlen. Der »grand caillou«, der große Kiesel, wie er liebevoll genannt wird, blieb verschollen. Die Kopie des verlorenen Originalsteins wiegt nur noch dreiundachtzig einhalb Kilo. Jahrzehntelang blieben die Bestweiten unter der Vier-Meter-Marke, weil der Koloss aus dem Stand geworfen werden musste. Dann wurde das Reglement geändert, und nun kann man den Wackerstein mit Anlauf stoßen. Im Jahr 2006 flog der »große Kiesel«, den ein Normalsterblicher keinen Zentimeter vom Fleck bewegen könnte, durch die Luft und auf sensationelle vier Meter elf. Im Anschluss an das Steinstoßen folgt ein folkloristischer Alpaufzug der Rigi-Alphirten in ihren Festtrachten, dem mit Blumen geschmückten Vieh und der Sennfamilien mit Fahrhabe und den Gebrauchsgegenständen der Älpler.
Dann sind die Schwinger wieder an der Reihe. Nach fünf Gängen steht der Schwingerkönig fest. Den »Wägsten und Besten« winkt als Preis ein Kranz aus Eichenlaub, der noch dem vierschrötigsten Burschen etwas Prinzessinnenhaftes verleiht – und eine riesige Kuhglocke. Kein Wunder, dass die Kämpfe so sportlich und fair verlaufen: Es geht nicht um Geld oder millionenschwere Sponsorenverträge, sondern nur um die persönliche Ehre und die Freude an der Sache. Das macht das Bergfest so sympathisch.
Viele Besucher streben schon in Richtung Rigi-Bahnen. Denn nun wird der Kampf vom Sägemehl auf den Perron verlegt. Wer keinen Platz mehr im Waggon bekommt, der findet in einem der Hotels ein Bett und kann am nächsten Morgen bequem den Rigi-Sonnenaufgang beobachten – wie einst Queen Victoria und wie Mark Twain.
Kauzig und kantig
Originale im Appenzellerland
Wie hingestreut liegen einzelne Bauernhöfe, Dörfer und winzige Ortschaften auf der saftiggrünen Hügellandschaft zwischen Bodensee und Säntis. In der Ostschweiz sieht man viele dieser sonnenverbrannten Holzhäuser, ein Bauernhaustyp, der noch aus dem 17. Jahrhundert stammt, mit den langen Sprossenfensterreihen und dem roten Geranienschmuck. Der Sage nach wollte der Säntis-Riese hier einst eine Stadt bauen. Er ließ sich im Montafon einen Vorrat an hübschen Häusern zimmern, steckte sie in einen groben Sack, warf ihn über die Schulter und machte sich auf den Heimweg. Als er den Alpstein überschritt, riss eine Felskante das Leinen auf. Die Häuser purzelten die Berghänge in die Täler hinunter, übersäten Böden und Hänge. Städte hat es im Appenzellerland nie gegeben.
Mit der Größe des Kantons ist kein Staat zu machen, eher mit seinen landschaftlichen Vorzügen. Fläche und Bevölkerung stellen gerade mal ein Prozent der Schweiz. »Klein, aber vollwertig«, sagen die Appenzeller selbstbewusst. Schließlich stelle auch Washington nur rund ein Prozent der Amerikaner. Auf diesem knappen Raum bietet das Appenzell Natur pur – und das soll auch so bleiben. Die Verantwortlichen der Kantonsregierung waren sich darin einig, auf Massentourismus zu verzichten. Weiche Höhenzüge umgeben sich mit schroffem Hochgebirge, Kulturlandschaft mischt sich mit Urlandschaft. Erst am Säntis steigt der grüne Voralpengürtel bis auf über zweitausendfünfhundert Meter zum Hochgebirge auf. Die höchsten Erhebungen des Alpsteingebirges, der Hohe Kasten (1795 Meter), der Kronberg (1643 Meter) und die Ebenalp (1664 Meter) sind als Paradies für Wanderer und Kletterer bekannt.
Wer zu den Appenzellern will, muss von allen Seiten her Steigungen überwinden. Früher kam über die unbequemen
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